Montag, 22. Oktober 2012

Westliche Dekadenz


Dekadenz (frz. décadence, von lat. cadere „fallen“, „sinken“) ist ein ursprünglich geschichtsphilosophischer Begriff, mit dem Veränderungen in Gesellschaften und Kulturen als Verfall, Niedergang bzw. Verkommenheit gedeutet und kritisiert wurden. Der Begriff setzt damit voraus, es gäbe objektiv bessere oder wünschenswertere Zustände „

(Wikipedia)

Am Bahnhof

Neulich am Hauptbahnhof. Ein Samstagabend. Ich bin auf den Weg zur Arbeit, warte mal wieder auf meinem Zug. Aus der Unterführung hallen lautstarke Stimmen, Gelächter, Gesänge. Ich drehe mich um, schaue auf die anderen Gleise. Ich erblicke dickbäuchige Männer in roten Bayern München Trikots. Ah, nun ist es klar. Der Groschen ist gefallen. Bundesligaspieltag. Und heute ein ganz besonderer. Meine Heimatstadt spielt gegen den Schicki-Micki Verein aus dem Süden. Dem Gegröle der Männer in Rot zu urteilen, hat der grösste und wohl gleichzeitig meist gehasste Fußballverein Deutschlands gewonnen. Die Gesänge kommen näher. Ich vertiefe mich weiter in mein Buch und hoffe das sie nicht gerade auf meinem Gleis landen. Die Hoffnung währt nicht lange.

Das Gegröle steht jetzt 50 Meter rechts neben mir. Eine Gruppe von ungefähr 10 Männern in mittleren Altern. Instinktiv wendet sich mein Körper nach links, vor Abscheu. Wie so oft bei Ansammlungen dieser Art, erkennt man schnell eine gewisse Gruppendynamik. Und einen Leithammel. Er gibt den Ton an, entscheidet über wen und was gelacht wird. Er bringt einen Kalauer nach dem anderen, zieht über jemanden aus seinem Rudel her, alle lachen. Nun äfft er einen Afrikaner lautstark nach. Es soll sich anhören, als würde er sich mit einem Wilden aus der Savanne unterhalten. Seine Imitation kommt dem sehr nahe. Wieder lautes Gelächter. Der Gesichtsausdruck seiner treuen Gefährten verrät alles: solange nicht ich das Opfer bin, in den Fokus von Hohn und Spott komme, ist es mir recht. Jeder andere, nur nicht ICH.

Daneben gibt es noch weitere Rollen, die bestimmte Funktionen im Gruppenprozess erfüllen. Bekannt sind: der „Sündenbock“, der „Klassenkasper“, der „Intrigant“, der „Mitläufer“, der „Beliebte“. Solche Rollen werden im Gruppenprozess einzelnen Mitgliedern zugewiesen, sie haben erst in zweiter Linie auch mit den Persönlichkeitseigenschaften der Rollenträger zu tun. 
 (Wikipedia)

Die Gruppe ist homogen und gleichgeschaltet. Jeder hat seine Rolle (Mitläufer, Mitlacher, Mitopfer). Der Leitwolf gibt alles. Das er quasi den ganzen Bahnhof mit seinem lautstarkem Organ unterhält, scheint ihm ziemlich egal zu sein. Auf dem Bahnsteig stehen noch viele andere Menschen. Ihn stört das nicht, Tunnelblick, die Umgebung ist ausgeblendet. Bier und Zigaretten werden ihr übriges dazu beigetragen haben. Der Zug fährt ein. Ich schaue, wo die Gruppe von Bierleichen steht und begebe mich schnellen Schrittes in die entgegengesetzte Richtung. Nein, in einem Waggon mit diesem Haufen möchte ich nicht sitzen, auch wenn ich nur 10 Minuten Fahrzeit habe. Der Plan gelingt. Ich steige zwei Waggons weiter hinten ein. Im Augenwinkel kann ich beobachten, wie andere Wartende es mir gleich tun. Ich setze mich neben einem jungen Mann. Das Abteil ist ziemlich voll, aber wenigstens keine grölenden Fußballfans. Zunächst mal wieder Ruhe, wie angenehm. Einmal mehr wird mir bewusst, warum ich mit diesem Sport und dem dazugehörigen Umfeld in meinem Leben nie wirklich etwas anfangen konnte. Nie dieses klebrige Zugehörigkeitsgefühl gebraucht habe, diese Art von Ersatzreligion in einer Zeit der Säkularisierung.

Es geht um Emotionen, ganz klar. Und es geht auch darum, dass nicht jeder Fan infantil herumgrölt, Bier säuft, und keine Zähne im Mund hat. Genauso klar. Emotionen, die offensichtlich im normalen durchstrukturierten Alltag nicht ausgelebt werden können. In einem Fanblock schon. Von Männern die öfters ins Stadium gehen, habe ich das gehört. Von diesem Gefühl, wenn zwanzigtausend singen, brüllen, jubeln. Man wird mitgerissen von dieser Welle, kann sich dem gar nicht entziehen. Man(n) ist glücklich. Freude, Wut, Frust, Trauer, Ärger, Hoffnung, all diese großen Emotionen eines Menschen vereinigen sich in der Fankurve zu einem Kulminationspunkt, und wechseln immer wieder in rascher Abfolge. Ein Wechselbad der Gefühle, so wurde mir berichtet, vergleichbar mit einer Achterbahnfahrt, nur viel intensiver und vielschichtiger.

Aber warum diese Feinbilder? Schon klar, zum Wesenszug eines treuen Fans gehört nun mal, dass er seinen Verein abgöttisch liebt und alle anderen hasst – ganz besonders den von der angrenzenden Stadt. Aber warum sieht und hört man so oft die Abwertung und Ausgrenzung von anders Farbigen, anders Ausschauenden und anders Denkenden? Gehört das zu einem eingefleischten Fußballfan wie seine Dauerkarte? Oder bedient man damit nur wieder ein Klischee? „Wie wir andere Mitmenschen wahrnehmen, sagt viel über unsere eigene Persönlichkeit aus", sagt Dustin Wood, Psychologe an der Wake Forest University im US-Bundesstaat North Carolina. Wie positiv man andere Menschen sehe, so glücklich, gutherzig und emotional stabil sei man selbst, schreibt Wood im Journal of Personality and Social Psychology.“ (…) Im Gegensatz dazu sind Menschen, die über andere schlecht sprechen, häufiger narzisstisch und unsozial. Wer viele schlechte Charaktereigenschaften habe, sehe auch in anderen Menschen das Schlechte, sagt Wood. "Allein die Tendenz, andere negativ wahrzunehmen, weist darauf hin, dass man eher depressiv ist und zu persönliche Störungen neigt", so der Psychologe"  (Welt online, 04.08.10)

Der Fußballfan an sich ist wohl auch nur ein Beispiel unter vielen, und pauschal kann man es sowieso nicht sagen. Aber offensichtlich gibt es eine gewisse Disposition in der Charakterstruktur dieser Menschen mit dem ständigen Blick auf das Negative und zu kritisierende bei dem Gegenüber. Andererseits postulieren Forscher, dass Lästern und der übliche Klatsch und Tratsch eine soziale Funktion erfüllt, ja, sogar als Warnsignal fungieren kann. „Denn eine wichtige Funktion des Lästerns ist, möglichst schnell möglichst viel über andere Menschen zu lernen, ohne jeden von ihnen sehr gut kennen zu müssen. Robin Dunbar hält das sogar für lebensnotwendig. Der Klatsch sei eine Art soziales Warnsystem, sagt er. Von jemandem, der angeblich unzuverlässig, boshaft oder hinterhältig ist, hält man sich lieber gleich fern, bevor man die erste schmerzhafte Erfahrung macht.“ (Welt online, 19.05.11)

Wie auch immer. Während der Fahrt taucht in mir folgende Frage auf: Inwiefern hat diese kleine Episode am Bahnhof mit den Werten und Normen einer materialistisch - leistungsorientierten Kultur zu tun?  Sie bleibt unbeantwortet. Zehn Minuten später bin ich an meinem Zielbahnhof angekommen. Die Fußballtruppe fährt weiter. Gut so.

In Die Zerstörung der Vernunft gibt George Lukács als Wesenszeichen einer jeden Dekadenz (im Kapitel "Nietzsche als Begründer des imperialistischen Irrationalismus") folgendes an: "...das Schwanken zwischen feinstem Nuancensinn, wählerischster Überempfindlichkeit und plötzliche hervorbrechender, oft hysterischer Brutalität...".

(Wikipedia)