„Dekadenz
(frz. décadence,
von lat. cadere
„fallen“, „sinken“) ist ein ursprünglich
geschichtsphilosophischer Begriff, mit dem Veränderungen in
Gesellschaften und Kulturen als Verfall, Niedergang bzw.
Verkommenheit gedeutet und kritisiert wurden. Der Begriff setzt damit
voraus, es
gäbe objektiv bessere oder wünschenswertere Zustände „
(Wikipedia)
Am Bahnhof
Neulich am Hauptbahnhof. Ein
Samstagabend. Ich bin auf den Weg zur Arbeit, warte mal wieder auf
meinem Zug. Aus der Unterführung hallen lautstarke Stimmen,
Gelächter, Gesänge. Ich drehe mich um, schaue auf die anderen
Gleise. Ich erblicke dickbäuchige Männer in roten Bayern München
Trikots. Ah, nun ist es klar. Der Groschen ist gefallen.
Bundesligaspieltag. Und heute ein ganz besonderer. Meine Heimatstadt
spielt gegen den Schicki-Micki Verein aus dem Süden. Dem Gegröle
der Männer in Rot zu urteilen, hat der grösste und wohl
gleichzeitig meist gehasste Fußballverein Deutschlands gewonnen. Die
Gesänge kommen näher. Ich vertiefe mich weiter in mein Buch und
hoffe das sie nicht gerade auf meinem Gleis landen. Die Hoffnung
währt nicht lange.
Das Gegröle steht jetzt 50 Meter rechts neben
mir. Eine Gruppe von ungefähr 10 Männern in mittleren Altern.
Instinktiv wendet sich mein Körper nach links, vor Abscheu. Wie so
oft bei Ansammlungen dieser Art, erkennt man schnell eine gewisse
Gruppendynamik. Und einen Leithammel. Er gibt den Ton an, entscheidet
über wen und was gelacht wird. Er bringt einen Kalauer nach
dem anderen, zieht über jemanden aus seinem Rudel her, alle lachen.
Nun äfft er einen Afrikaner lautstark nach. Es soll sich anhören,
als würde er sich mit einem Wilden aus der Savanne unterhalten.
Seine Imitation kommt dem sehr nahe. Wieder lautes Gelächter. Der
Gesichtsausdruck seiner treuen Gefährten verrät alles: solange
nicht ich das Opfer bin, in den Fokus von Hohn und Spott komme, ist
es mir recht. Jeder andere, nur nicht ICH.
Daneben gibt es noch
weitere Rollen, die bestimmte Funktionen im Gruppenprozess erfüllen.
Bekannt sind: der „Sündenbock“, der „Klassenkasper“, der
„Intrigant“, der „Mitläufer“, der „Beliebte“. Solche
Rollen werden im Gruppenprozess einzelnen Mitgliedern zugewiesen, sie
haben erst in zweiter Linie auch mit den Persönlichkeitseigenschaften
der Rollenträger zu tun.
(Wikipedia)
Die Gruppe ist homogen und
gleichgeschaltet. Jeder hat seine Rolle (Mitläufer, Mitlacher,
Mitopfer). Der Leitwolf gibt alles. Das er quasi den ganzen Bahnhof
mit seinem lautstarkem Organ unterhält, scheint ihm ziemlich egal zu
sein. Auf dem Bahnsteig stehen noch viele andere Menschen. Ihn stört
das nicht, Tunnelblick, die Umgebung ist ausgeblendet. Bier und
Zigaretten werden ihr übriges dazu beigetragen haben. Der Zug fährt
ein. Ich schaue, wo die Gruppe von Bierleichen steht und begebe mich
schnellen Schrittes in die entgegengesetzte Richtung. Nein, in einem
Waggon mit diesem Haufen möchte ich nicht sitzen, auch wenn ich nur
10 Minuten Fahrzeit habe. Der Plan gelingt. Ich steige zwei Waggons
weiter hinten ein. Im Augenwinkel kann ich beobachten, wie andere
Wartende es mir gleich tun. Ich setze mich neben einem jungen Mann.
Das Abteil ist ziemlich voll, aber wenigstens keine grölenden
Fußballfans. Zunächst mal wieder Ruhe, wie angenehm. Einmal mehr
wird mir bewusst, warum ich mit diesem Sport und dem dazugehörigen
Umfeld in meinem Leben nie wirklich etwas anfangen konnte. Nie dieses
klebrige Zugehörigkeitsgefühl gebraucht habe, diese Art von
Ersatzreligion in einer Zeit der Säkularisierung.
Es geht um Emotionen, ganz klar. Und es
geht auch darum, dass nicht jeder Fan infantil herumgrölt, Bier
säuft, und keine Zähne im Mund hat. Genauso klar. Emotionen, die
offensichtlich im normalen durchstrukturierten Alltag nicht
ausgelebt werden können. In einem Fanblock schon. Von Männern die öfters ins Stadium gehen, habe ich
das gehört. Von diesem Gefühl, wenn zwanzigtausend singen, brüllen,
jubeln. Man wird mitgerissen von dieser Welle, kann sich dem gar nicht
entziehen. Man(n) ist glücklich. Freude, Wut, Frust, Trauer, Ärger,
Hoffnung, all diese großen Emotionen eines Menschen vereinigen sich in der Fankurve zu einem Kulminationspunkt, und wechseln immer wieder
in rascher Abfolge. Ein Wechselbad der Gefühle, so wurde mir
berichtet, vergleichbar mit einer Achterbahnfahrt, nur viel
intensiver und vielschichtiger.
Aber warum diese Feinbilder? Schon
klar, zum Wesenszug eines treuen Fans gehört nun mal, dass er seinen
Verein abgöttisch liebt und alle anderen hasst – ganz besonders den von der angrenzenden Stadt. Aber warum sieht und hört man
so oft die Abwertung und Ausgrenzung von anders Farbigen, anders
Ausschauenden und anders Denkenden? Gehört das zu einem
eingefleischten Fußballfan wie seine Dauerkarte? Oder bedient man
damit nur wieder ein Klischee? „Wie wir andere Mitmenschen
wahrnehmen, sagt viel über unsere eigene Persönlichkeit aus",
sagt Dustin Wood, Psychologe an der Wake Forest University im
US-Bundesstaat North Carolina. Wie positiv man andere Menschen sehe,
so glücklich, gutherzig und emotional stabil sei man selbst,
schreibt Wood im Journal of Personality and Social Psychology.“
(…) Im Gegensatz dazu sind Menschen, die über andere schlecht
sprechen, häufiger narzisstisch und unsozial. Wer viele schlechte
Charaktereigenschaften habe, sehe auch in anderen Menschen das
Schlechte, sagt Wood. "Allein die Tendenz, andere negativ
wahrzunehmen, weist darauf hin, dass man eher depressiv ist und zu
persönliche Störungen neigt", so der Psychologe" (Welt
online, 04.08.10)
Der Fußballfan an
sich ist wohl auch nur ein Beispiel unter vielen, und pauschal kann
man es sowieso nicht sagen. Aber offensichtlich gibt es eine gewisse
Disposition in der Charakterstruktur dieser Menschen mit dem
ständigen Blick auf das Negative und zu kritisierende bei dem
Gegenüber. Andererseits postulieren Forscher, dass Lästern und der
übliche Klatsch und Tratsch eine soziale Funktion erfüllt, ja,
sogar als Warnsignal fungieren kann. „Denn eine wichtige
Funktion des Lästerns ist, möglichst schnell möglichst viel über
andere Menschen zu lernen, ohne jeden von ihnen sehr gut kennen zu
müssen. Robin Dunbar hält das sogar für lebensnotwendig. Der
Klatsch sei eine Art soziales Warnsystem, sagt er. Von jemandem, der
angeblich unzuverlässig, boshaft oder hinterhältig ist, hält man
sich lieber gleich fern, bevor man die erste schmerzhafte Erfahrung
macht.“ (Welt online, 19.05.11)
Wie auch immer.
Während der Fahrt taucht in mir folgende Frage auf: Inwiefern hat
diese kleine Episode am Bahnhof mit den Werten und Normen einer
materialistisch - leistungsorientierten Kultur zu tun? Sie bleibt unbeantwortet. Zehn Minuten
später bin ich an meinem Zielbahnhof angekommen. Die Fußballtruppe
fährt weiter. Gut so.
„In Die Zerstörung
der Vernunft gibt George Lukács als Wesenszeichen einer jeden
Dekadenz (im Kapitel "Nietzsche als Begründer des
imperialistischen Irrationalismus") folgendes an: "...das
Schwanken zwischen feinstem Nuancensinn, wählerischster
Überempfindlichkeit und plötzliche hervorbrechender, oft
hysterischer Brutalität...".
(Wikipedia)