5.
Vier Sichtweisen auf die Wirklichkeit
Nachdem ich in den letzten Beiträgen
eher emotionale Themen verarbeitet habe, möchte ich heute zu mehr
sachlichen Themen zurückkehren und die „Theorie von Allem“ -
Serie wieder aufgreifen. Im vierten
und bisher letzten Teil ging ich der Frage nach, ob
sich die „grüne“ Occupybewegung weiterentwickeln kann und damit
einhergehend, welche Faktoren notwendig sind, um eine persönliche
sowie kollektive Weiterentwicklung voran zu treiben. Im Schlussteil
streifte ich den von Ken Wilber geprägten Begriff der „Generation
X“, eine kulturelle Entwicklungsebene, welche gerade am Entstehen
ist, und daraus hervorgehend, dass Warten auf die neuen globalen
(integralen) Gründerväter der Zukunft.
In den bisherigen vier Teilen
konzentrierte ich mich auf die Spirale der Entwicklung und den darin enthaltenen unterschiedlichen
Bewusstseinebenen. Eine der tragenden Säulen der Integralen Theorie,
aber bei weitem nicht die Einzige. Da wir in einer zunehmend
komplexer werdenden Welt leben, muss per Definition eine
„Landkarte“, die den Anspruch hat, diese Welt so vollständig wie
möglich abzubilden, genauso umfangreich und komplex sein. Heute
möchte ich eine weitere tragende Säule der Integralen Theorie
einführen:
Die
vier Quadranten.
Die ewige Philosophie
Die vier Quadranten
sind ein Modell des Autors und Philosophen Ken Wilber. Sie stellen
eine Verbindung zweier elementarer Unterscheidung der
manifesten Wirklichkeit dar. Diese Grundunterscheidungen sind:
a) innerlich/äußerlich
und
b)
individuell/kollektiv
( integralesleben.org )
Als erstes erkennen wir hieraus, dass,
wenn wir uns der manifesten Wirklichkeit annähern wollen, es
grundsätzlich auf zwei Wegen möglich ist: innen/außen oder
individuell/kollektiv. Eine erste und einfache
Unterscheidungsmöglichkeit der relativen/dualen Wirklichkeit.
„Nach Ken Wilber existiert kein Innerliches ohne ein
Äußerliches, kein Äußerliches ohne ein Innerliches, kein
Singular ohne ein Plural und kein Plural ohne ein Singular, und zwar
seit Beginn aller Manifestation (Urknall)."
( integralesleben.org )
"Seit Beginn aller Manifestation.“ Hier ist es sehr wichtig, genau hinzuschauen. Jahrelang hat es mir das Gehirn zermartert, wie es zusammenpassen kann, dass alle großen Weisheitstraditionen der Welt, vom Christentum über den Buddhismus zum Daoismus, von einer „Ewigen Philosophie“ (Philosophia perennis) sprechen, von einem Urgrund aller Dinge, irgendeiner Form von absoluter Gottheit, aus der alle manifestierten Dinge entstehen. Eben alles, was wir sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken können - angefangen von einer Blume im Frühjahr, einer duftenden Reisschüssel bis zum Gefühl der Liebe. Diese „Gottheit“ (oder Tao, Absolutes, Leere) ist nicht ein von allen endlichen Dingen getrenntes Großes Ding, sondern eher die Realität, das Sosein oder der Urgrund aller Dinge. Des weiteren sagen diese Traditionen, darf man sich diese Gottheit nicht als kolossales Wesen, als liebenden Vater oder einen außerhalb der Schöpfung stehenden großen Schöpfer vorstellen, sondern als die „Natur aller Naturen“, nicht etwas von allen Dingen und Ereignissen Getrenntes, eher als etwas Absolutes, welches gewissermaßen das Gewebe von allem ist, was ist.
Wenn wir dem folgen, bedeutet dies,
dass auch der Mensch aus diesem Absolutem entstanden ist. Aber wer
oder was nimmt das alles wahr?
„Es
gibt keine Suche nach dem Selbst, es schaut durch Deine Augen, gerade
jetzt.
Das Selbst kann nicht erreicht werden.
Du kannst ganz einfach und absolut nicht erlangen, was Du nie verloren hast."
Das Selbst kann nicht erreicht werden.
Du kannst ganz einfach und absolut nicht erlangen, was Du nie verloren hast."
(Ken Wilber)
Diese Erkenntnis war für mich mein philosophisches Heureka. Auf einer absoluten Ebene gibt es ganz und gar nichts zu erreichen, weil es schon immer da war, langer vor meiner Geburt und lange danach. So als würden wir uns jahrelang fragen, worauf wir stehen und dann das erste Mal unsere Füße erblicken, die schon immer da waren. Mit zunehmenden Studium der Integralen Theorie setzte sich das Gedankenpuzzle immer weiter zusammen. Und zwar ganz einfach in der fundamentalen Erkenntnis: Es gibt zwei Wirklichkeiten. Und beide bedingen sich gegenseitig und beide sind gleich wichtig und gleich wahr. : Eine absolute Wirklichkeit und eine relative Wirklichkeit. Die absolute Wirklichkeit umfasst das „ICH BIN“, das Formlose, das Absolute, die Natur aller Naturen, das klare Bewusstsein. Aus dieser „Leere“ entstehen alle Dinge der relativen Wirklichkeit in unserem Bewusstsein. Hier gibt es kein gut oder schlecht, Angst oder Liebe, Schmerz oder Freude, Hunger oder Satt. Hier ist alles eins, hier ist nichts außerhalb der Berge, Flüsse und Wälder, sondern etwas, das durch die Fasern von allem und jedem fließt.
Aus diesem Urgrund entstehen alle Dinge
der dualen Welt – unserer Welt. In dem Moment, wo sich unsere Seele
entschieden hat, in einen Körper zu inkarnieren, betrat sie die
Sphäre der stofflichen, materiellen und physischen Welt, mit all
ihren Licht und Schattenseiten, mit all ihren Unterscheidungen und
Dualismen, Entzückungen und Leiden. Aber das ICH BIN ist immer noch
da, war immer da und wird es immer bleiben. Wie es im Diamant-Sutra
steht: „Form ist Leerheit und Leerheit ist Form“. Wenn man diese
beiden Wirklichkeiten als gleichwertige Dimensionen unseres Seins
anerkennt, dann ergibt alles einen „Sinn“.
Die von Wilber entwickelten vier Quadranten helfen uns als Meta-Theorie, unsere immer komplexer werdende Welt, auf einer relativen Ebene so umfangreich und komplett wie möglich greifbar zu machen, indem nichts ausgegrenzt oder als falsch angesehen wird, sondern alles als Ausdruck des „Einen“ anerkannt wird und so seinen Platz in der natürlichen Ordnung der Dinge bekommt. Man kann die Integrale Theorie mit einer Alpenüberquerung vergleichen. Bevor man sich auf den Weg macht, versucht man die aktuellste und detailliertes Wanderkarte zu bekommen, weil man sich ansonsten schnell verlaufen kann. Möchte man sich durch unser immer komplexer werdendes Leben bewegen, und spürt den drängenden Wunsch dieses zu verstehen, sucht man nach einem praktischen Wegweiser, der dies alles umfasst. Die Integrale Theorie versucht diesem Anspruch gerecht zu werden.
Eine multiperspektivische Brille
Was genau beinhalten nun diese vier
Quadranten? Nachdem Wilber nahezu alle Philosophien und Theorien aus
Ost und West studiert hatte, trieb es ihn schier in den Wahnsinn, wie
all diese Weisheiten zusammen passen sollten, ohne das die eine
weniger wahr wäre als die andere - sind sie doch alle Ausdruck des
„Einen“. In seiner
Klause malte er eines Tages - während einer 3-jährigen
Rückzugsphase - ein T-Kreuz auf ein leeres Blatt Papier. Zuvor
hatte er auf unzähligen Klebezetteln all die Theorien, Systeme und
Traditionen aus Ost und West zusammengetragen. Und versuchte sie zu
unterscheiden und gleichzeitig zusammenzufassen. Irgendwann begann er
die Zettel in die vier leeren Rechtecke zu kleben. Und plötzlich
ergab alles einen Sinn und hatte seinen Platz. Wenn man die
Unterscheidung der relativen Wirklichkeit in Innen/Außen und
Individuell/Kollektiv als Differenzierung zulässt. Am Ende dieser
Sisyphus Arbeit kamen vier unterschiedliche Perspektiven/Blickwinkel
auf die Wirklichkeit heraus – die sich alle gegenseitig bedingen
und ergänzen und nicht ausschließen. Dies ist elementar wichtig,
ansonsten wäre es nur eine „Anhäufung“ von Theorien und
Konzepten. Die vier Quadranten:
Die 4 Quadranten |
Der obere linke Quadrant (O.L.)
bezieht sich auf das Ich, auf alles
subjektiv Erleb- und Erfühlbare, auf alles was sich im Inneren eines
jeden Individuums abspielt (intentional). Man kann versuchen den
Geschmack einer Erdbeere in all seinen Feinheiten einem anderem
Menschen zu erklären, letztlich muss dieser selber in die Erdbeere
beißen, um subjektiv den Geschmack einer Erdbeere zu erleben.
Dieses innere Erleben von Zuständen, Gefühlen und Stimmungen ist
einerseits unauflöslich vernetzt mit unserem physischem Gehirn,
andererseits mit der jeweiligen Natur und Umgebung in der es lebt.
Der Einzelne lebt nicht in einem luftleeren Raum. „Ein
individuelles oder subjektives Bewußtsein existiert jedoch nicht in
einem Vakuum; kein Subjekt ist eine Insel für sich. Das individuelle
Bewußtsein ist unauflöslich vernetzt mit dem objektivem Organismus
und Gehirn, mit der Natur, mit Gesellschaftssystemen und Umwelt und
mit kulturellen Rahmenbedingungen, gemeinsamen Werten und
Weltanschauungen.“ (Ganzheitlich handeln, S.
63)
Und
damit berühren wir den oberen
rechten Quadranten (O.R.).
Hier ist das Es
zu Hause - alles was man wiegen, messen und überprüfen kann. Alles
was sich hier abspielt ist Verhaltensbezogen. Die empirische
Wissenschaft mit all ihren Versuchsreihen und Forschungen hat hier
ihren angestammten Platz (was man verifizieren und belegen kann). „
Der Oben-Rechts-Quadrant“ ist das Individuum aus
objektiver, empirischer, „wissenschaftlicher“ Sicht. Das schließt
insbesondere ein: organische Körperzustände, Biochemie,
neurobiologische Faktoren, Neurotransmitter, organische
Gehirnstrukturen (Gehirnstamm, limbisches System, Großhirnrinde) und
so weiter. Wie immer wir die tatsächliche Beziehung zwischen
Geist/Bewußtsein (Oben links) und Gehirn/Körper (Oben rechts)
einschätzen, wir können zumindest darin übereinstimmen, dass sie
eng miteinander verbunden sind“.
(Ganzheitlich handeln, S. 63)
Damit haben wir die beiden
individuellen/innerlichen Quadranten kurz umschrieben. Jetzt gelangen
wir zum ersten kollektiven/äußeren Quadranten. Wie schon
angedeutet, ist jedes Subjekt oder Ich in einen kulturellen Kontext
eingebettet und lebt nicht in einem Vakuum. Sondern in einem Wir
aus gemeinsamen Werten, Wahrnehmungen und Bedeutungen, eben einer
Kultur, verbunden mit einer gemeinsamen Sprache. Somit gelangen wir
zum ersten kollektiven Quadranten, dem unterem linkem Quadranten
(U.L.) „Der Unten-Links-Quadrant beinhaltet diejenigen
Muster im Bewusstsein, welche allen Menschen gemeinsam sind, die sich
„in“ einer bestimmten Kultur oder Subkultur befinden. Damit Sie
und ich uns überhaupt verstehen können, müssen wir zumindest eine
gewisse linguistische Semantik gemeinsam haben sowie zahlreiche
Wahrnehmungen, Weltanschauungen, die sich zu einem bestimmten Grad
überlappen (damit Kommunikation überhaupt möglich ist), und so
weiter. Diese gemeinsamen Werte, Wahrnehmungen, Bedeutungen,
semantischen Standorte, kulturellen Praktiken, Ethiken und
dergleichen bezeichne ich einfach als Kultur oder die
intersubjektiven Muster im Bewusstsein.“ (Ganzheitlich
handeln, S. 64)
All
diese intersubjektiven
gemeinsamen Wahrnehmungen, Werte, Traditionen und Anschauungen eines
kulturellen Kontextes haben nichtsdestoweniger objektive (äußere)
Entsprechungen. Wiederum existieren auch diese Anschauungen und Werte
nicht in einem luftleeren Raum. Vielmehr treffen sie auf physische
und techno-ökonomische Institutionen und Gesellschaftsformen.
Beginnend in unserer Evolutionsgeschichte bei den Sammler- und Jäger
Horden über die Agrarkultur, das Industriezeitalter bis zum heutigen
Informationszeitalter. Mit diesen äußeren Korrelaten einer
bestimmter kulturellen (intersubjektiven) Entwicklungsstufe berühren
wir den Unteren rechten Quadranten (U.R.), dem
Wir alle. „
Diese kulturellen Wahrnehmungen, die alle bis zu einem gewissen Grad
in intersubjektiven Räumen im Bewusstsein vorhanden sind, haben
nichtsdestoweniger objektive Korrelate, die empirisch entdeckt werden
können – physische Strukturen und Institutionen einschließlich
techno-ökonomischer Formen (Sammeln und Jagen, Gartenbau, Seefahrt,
Landwirtschaft, Industrie, Information), Architekturstile,
geopolitische Strukturen, Formen der Informationsübermittlung
(vokale Zeichen, Ideogramme, Buchdruck, Telekommunikation,
Mikrochips), gesellschaftliche Strukturen (Überlebenshorden,
ethnische Stämme, Feudalordnungen, Nationen, körperschaftlich
organisierte Staaten, Wertegemeinschaften und so weiter). Diese
intersubjektiven Wirklichkeiten bezeichne ich im allgemeinen als das
Gesellschaftssystem (Unten-Rechts-Quadrant). (Ganzheitlich
handeln, S.64)
Wenn man einen Blick auf die relative
Welt wirft, kann man sich die vier Quadranten wie eine
multiperspektivische Brille mit vier Linsenprismen vorstellen. Man
schaut quasi gleichzeitig durch vier Linsen. Lässt man drei Linsen
weg und schaut beispielsweise nur durch die Linse des
wissenschaftlichen Empirismus (O.R.), blendet man dadurch automatisch
drei andere Sichtweisen (Quadranten) aus. Nun hat man die Brille des
strengen empirischen Forschers auf, der nur das für wahr hält, was
er durch seine Brille sieht. In der Integralen Theorie ist dazu der
Begriff des (Quadranten) Reduktionismus geprägt worden. Der Vorteil
einer integralen, vierprismigen Brille liegt auf der Hand. Man sieht
dadurch alle vier Bereiche der relativen (dualen) Wirklichkeit.
Sobald man eine Linse scharf stellt, blendet man dadurch
notwendigerweise die drei anderen aus. Ein einfaches Beispiel soll
diese multiperspektivische Sichtweise verdeutlichen.
Ein Gedanke
Einen Gedanken der mir kommt erlebe
ich phänomenologisch (oberer linker Quadrant). Dieser Gedanke hat
hirnphysiologische Entsprechungen (oberer rechter Quadrant). Der
Gedanke entsteht vor dem Hintergrund meiner kulturellen Prägungen
und Entwicklung und ist von diesen geformt (unterer linker Quadrant).
Gleichzeitig ist dieser Gedanke auch geprägt und geformt von den
sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen in denen ich lebe
(unterer rechter Quadrant).
(integralesleben.org )
Die
nachfolgenden Diagramme geben uns noch einmal einen groben Überblick
über die vier Quadranten (Diagramm 1) sowie einige repräsentative
Vertreter daraus (Diagramm 2). Man kann die vier Quadranten auch auf
drei einfache „Nenner“ bringen bzw. zusammen, nämlich auf:
ICH (O.L.) - WIR (U.L.) – ES/se( O.R./U.R.). „Daher
können die vier Quadranten zu den „Großen Drei“ vereinfacht
werden (Ich, Wir und Es.) Diese wichtigen Dimensionen lassen sich auf
viele unterschiedliche Weisen umschreiben: Kunst, Moral und
Wissenschaft; das Schöne, das Gute und das Wahre; Selbst, Kultur und
Natur.“ (Ganzheitlich
handeln, S. 66)
Ich
|
Wir
|
Es
|
Selbst | Kultur | Natur |
Schönheit | Gerechtigkeit | Wahrheit |
Ästhetik | Moral | Wissenschaft |
Diagramm 1
( Integral-con-text.de )
ICH
|
WIR
|
ES
|
SIE (ES-se)
|
Freud | Thomas Kuhn | B.F. Skinner | Systemtheorie |
C.G. Jung | Wilhelm Dilthey | John Watson | Talcott Parsons |
Piaget | Jean Gebser | John Locke | Auguste Comte |
Aurobindo | Max Weber | Empirismus | Karl Marx |
Plotin | Hans Georg Gadamer | Behaviorismus | Gerhard Lenski |
Gautama Buddha | Physik, Biologie, Neurologie | Ökologisches Gewebe des Lebens |
Diagramm 2: Einige
repräsentative Theoretiker in jedem Quadranten
(Ganzheitlich
handeln, S. 65)
Zum Ende möchte ich Ken Wilber noch
einmal zu Wort kommen lassen, um ein weiteres Mal zu verdeutlichen,
wie wichtig es ist, alle vier Quadranten (Linsen) gleichermaßen zu
berücksichtigen, um einen umfassenden/vollständigen Blick
auf die duale Wirklichkeit zu gewinnen:
„Es ist richtig, dass der obere linke
Quadrant der Ort des Bewusstseins ist, wie es in einem Individuum
erscheint, aber das ist ja der Punkt: wie es in einem Individuum
erscheint. Und doch ist Bewusstsein als Ganzes verankert in und
verteilt über alle Quadranten - intentional, verhaltensmässig,
kulturell und sozial. "Löscht" man irgendeinen Quadranten
aus, verschwinden alle anderen auch, weil jeder für die Existenz
aller anderen unabdingbar ist.“
(integralesleben.org)