Montag, 22. Oktober 2012

Westliche Dekadenz


Dekadenz (frz. décadence, von lat. cadere „fallen“, „sinken“) ist ein ursprünglich geschichtsphilosophischer Begriff, mit dem Veränderungen in Gesellschaften und Kulturen als Verfall, Niedergang bzw. Verkommenheit gedeutet und kritisiert wurden. Der Begriff setzt damit voraus, es gäbe objektiv bessere oder wünschenswertere Zustände „

(Wikipedia)

Am Bahnhof

Neulich am Hauptbahnhof. Ein Samstagabend. Ich bin auf den Weg zur Arbeit, warte mal wieder auf meinem Zug. Aus der Unterführung hallen lautstarke Stimmen, Gelächter, Gesänge. Ich drehe mich um, schaue auf die anderen Gleise. Ich erblicke dickbäuchige Männer in roten Bayern München Trikots. Ah, nun ist es klar. Der Groschen ist gefallen. Bundesligaspieltag. Und heute ein ganz besonderer. Meine Heimatstadt spielt gegen den Schicki-Micki Verein aus dem Süden. Dem Gegröle der Männer in Rot zu urteilen, hat der grösste und wohl gleichzeitig meist gehasste Fußballverein Deutschlands gewonnen. Die Gesänge kommen näher. Ich vertiefe mich weiter in mein Buch und hoffe das sie nicht gerade auf meinem Gleis landen. Die Hoffnung währt nicht lange.

Das Gegröle steht jetzt 50 Meter rechts neben mir. Eine Gruppe von ungefähr 10 Männern in mittleren Altern. Instinktiv wendet sich mein Körper nach links, vor Abscheu. Wie so oft bei Ansammlungen dieser Art, erkennt man schnell eine gewisse Gruppendynamik. Und einen Leithammel. Er gibt den Ton an, entscheidet über wen und was gelacht wird. Er bringt einen Kalauer nach dem anderen, zieht über jemanden aus seinem Rudel her, alle lachen. Nun äfft er einen Afrikaner lautstark nach. Es soll sich anhören, als würde er sich mit einem Wilden aus der Savanne unterhalten. Seine Imitation kommt dem sehr nahe. Wieder lautes Gelächter. Der Gesichtsausdruck seiner treuen Gefährten verrät alles: solange nicht ich das Opfer bin, in den Fokus von Hohn und Spott komme, ist es mir recht. Jeder andere, nur nicht ICH.

Daneben gibt es noch weitere Rollen, die bestimmte Funktionen im Gruppenprozess erfüllen. Bekannt sind: der „Sündenbock“, der „Klassenkasper“, der „Intrigant“, der „Mitläufer“, der „Beliebte“. Solche Rollen werden im Gruppenprozess einzelnen Mitgliedern zugewiesen, sie haben erst in zweiter Linie auch mit den Persönlichkeitseigenschaften der Rollenträger zu tun. 
 (Wikipedia)

Die Gruppe ist homogen und gleichgeschaltet. Jeder hat seine Rolle (Mitläufer, Mitlacher, Mitopfer). Der Leitwolf gibt alles. Das er quasi den ganzen Bahnhof mit seinem lautstarkem Organ unterhält, scheint ihm ziemlich egal zu sein. Auf dem Bahnsteig stehen noch viele andere Menschen. Ihn stört das nicht, Tunnelblick, die Umgebung ist ausgeblendet. Bier und Zigaretten werden ihr übriges dazu beigetragen haben. Der Zug fährt ein. Ich schaue, wo die Gruppe von Bierleichen steht und begebe mich schnellen Schrittes in die entgegengesetzte Richtung. Nein, in einem Waggon mit diesem Haufen möchte ich nicht sitzen, auch wenn ich nur 10 Minuten Fahrzeit habe. Der Plan gelingt. Ich steige zwei Waggons weiter hinten ein. Im Augenwinkel kann ich beobachten, wie andere Wartende es mir gleich tun. Ich setze mich neben einem jungen Mann. Das Abteil ist ziemlich voll, aber wenigstens keine grölenden Fußballfans. Zunächst mal wieder Ruhe, wie angenehm. Einmal mehr wird mir bewusst, warum ich mit diesem Sport und dem dazugehörigen Umfeld in meinem Leben nie wirklich etwas anfangen konnte. Nie dieses klebrige Zugehörigkeitsgefühl gebraucht habe, diese Art von Ersatzreligion in einer Zeit der Säkularisierung.

Es geht um Emotionen, ganz klar. Und es geht auch darum, dass nicht jeder Fan infantil herumgrölt, Bier säuft, und keine Zähne im Mund hat. Genauso klar. Emotionen, die offensichtlich im normalen durchstrukturierten Alltag nicht ausgelebt werden können. In einem Fanblock schon. Von Männern die öfters ins Stadium gehen, habe ich das gehört. Von diesem Gefühl, wenn zwanzigtausend singen, brüllen, jubeln. Man wird mitgerissen von dieser Welle, kann sich dem gar nicht entziehen. Man(n) ist glücklich. Freude, Wut, Frust, Trauer, Ärger, Hoffnung, all diese großen Emotionen eines Menschen vereinigen sich in der Fankurve zu einem Kulminationspunkt, und wechseln immer wieder in rascher Abfolge. Ein Wechselbad der Gefühle, so wurde mir berichtet, vergleichbar mit einer Achterbahnfahrt, nur viel intensiver und vielschichtiger.

Aber warum diese Feinbilder? Schon klar, zum Wesenszug eines treuen Fans gehört nun mal, dass er seinen Verein abgöttisch liebt und alle anderen hasst – ganz besonders den von der angrenzenden Stadt. Aber warum sieht und hört man so oft die Abwertung und Ausgrenzung von anders Farbigen, anders Ausschauenden und anders Denkenden? Gehört das zu einem eingefleischten Fußballfan wie seine Dauerkarte? Oder bedient man damit nur wieder ein Klischee? „Wie wir andere Mitmenschen wahrnehmen, sagt viel über unsere eigene Persönlichkeit aus", sagt Dustin Wood, Psychologe an der Wake Forest University im US-Bundesstaat North Carolina. Wie positiv man andere Menschen sehe, so glücklich, gutherzig und emotional stabil sei man selbst, schreibt Wood im Journal of Personality and Social Psychology.“ (…) Im Gegensatz dazu sind Menschen, die über andere schlecht sprechen, häufiger narzisstisch und unsozial. Wer viele schlechte Charaktereigenschaften habe, sehe auch in anderen Menschen das Schlechte, sagt Wood. "Allein die Tendenz, andere negativ wahrzunehmen, weist darauf hin, dass man eher depressiv ist und zu persönliche Störungen neigt", so der Psychologe"  (Welt online, 04.08.10)

Der Fußballfan an sich ist wohl auch nur ein Beispiel unter vielen, und pauschal kann man es sowieso nicht sagen. Aber offensichtlich gibt es eine gewisse Disposition in der Charakterstruktur dieser Menschen mit dem ständigen Blick auf das Negative und zu kritisierende bei dem Gegenüber. Andererseits postulieren Forscher, dass Lästern und der übliche Klatsch und Tratsch eine soziale Funktion erfüllt, ja, sogar als Warnsignal fungieren kann. „Denn eine wichtige Funktion des Lästerns ist, möglichst schnell möglichst viel über andere Menschen zu lernen, ohne jeden von ihnen sehr gut kennen zu müssen. Robin Dunbar hält das sogar für lebensnotwendig. Der Klatsch sei eine Art soziales Warnsystem, sagt er. Von jemandem, der angeblich unzuverlässig, boshaft oder hinterhältig ist, hält man sich lieber gleich fern, bevor man die erste schmerzhafte Erfahrung macht.“ (Welt online, 19.05.11)

Wie auch immer. Während der Fahrt taucht in mir folgende Frage auf: Inwiefern hat diese kleine Episode am Bahnhof mit den Werten und Normen einer materialistisch - leistungsorientierten Kultur zu tun?  Sie bleibt unbeantwortet. Zehn Minuten später bin ich an meinem Zielbahnhof angekommen. Die Fußballtruppe fährt weiter. Gut so.

In Die Zerstörung der Vernunft gibt George Lukács als Wesenszeichen einer jeden Dekadenz (im Kapitel "Nietzsche als Begründer des imperialistischen Irrationalismus") folgendes an: "...das Schwanken zwischen feinstem Nuancensinn, wählerischster Überempfindlichkeit und plötzliche hervorbrechender, oft hysterischer Brutalität...".

(Wikipedia)

Montag, 3. September 2012

Das Drama des narzisstisch verwundeten Menschen

Der Artikel gefiel mir so gut, dass ich mich entschlossen habe, ihn hier komplett als Gastbeitrag anzubieten.  Der Narzissmus ist aus meiner festen Überzeugung heraus die "Seuche" des 21. Jahrhunderts - oder der Postmoderne -  und verhindert nicht nur in spirituell praktizierenden Kreisen eine Weiterentwicklung von Individuum, Kultur und Gesellschaft.

iBuddhismus: Das Drama des narzisstisch verwundeten Menschen: Das Drama des narzisstisch verwundeten Menschen ist eine Geschichte der inneren Einsamkeit und der verzweifelten Suche nach Liebe und Anerk...

Sonntag, 22. Juli 2012

Das kranke System

Ohne grosse Worte und Einleitung. Kann sich jeder selbst sein Urteil bilden, ob er ein "Konsumsklave" ist oder nicht. Wieder wäre es zu einfach, alles auf das System zu schieben. Aber es spielt einen wesentliche Rolle in unserer Existenz und in unserem bürgerlichen Selbstverständnis. Die Zauberworte sind: Mut, Aufklärung und Selbst-Bestimmung.



Montag, 16. Juli 2012

Eine Theorie von Allem Teil 4

 

4. Vertikale Transformation


Kann sich die Occupybewegung weiterentwickeln?

 Ich glaube, dass es nun an der Zeit ist sich als Bewegung weiterzuentwickeln. Die Fragen dazu könnten lauten: Was war gut in unserer bisherigen Struktur und Protest, was war schlecht, und vor allem, was können wir wirklich an Alternativen/Lösungen anbieten? Und zu dieser Weiterentwicklung gehört auch die guten Seiten der Moderne anzuerkennen. Wenn wir das kulturelle und individuelle Entwicklungs- und Stufenmodell (Spiral Dynamics)  akzeptieren, dann bildet die  "Orange-Ebene" mit ihren wissenschaftlichen Errungenschaften die Basis von Industriestaaten und damit auch die Basis von den verhassten Banken gegen die Occupy opponiert. Hier geht es natürlich um ein gutes Leben und materiellen Überfluss, auf dieser Ebene  gibt es nur Gewinner oder Verlierer. Aber das ist nur eine Seite dieser Entwicklungsstufe. "Obwohl die westliche liberale Aufklärung ziemlich von den Postmodernisten verunglimpft wurde, war die Aufklärung ein historischer Wendepunkt im Wandel von der traditionellen konservativen Ideologie (Blau) zu den universell-liberalen Werten (Orange), insbesondere der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Die Tatsache, dass der Westen diese Ideale nicht immer umsetzen kann, ist kein Grund, sie zu leugnen - ganz besonders weil jene, die sie leugnen, dies nur unter dem Schutz dieser Ideale tun können." (Boomeritis, S.103)

Das heisst ganz einfach, auf dieser Entwicklungsstufe finden wir auch das, worum es Occupy im Kern geht und das alle vereint: Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Neben dem was es verdammt: Kapitalismus, Ausbeutung, Unterdrückung. Wir leben in einer komplexen Welt, und man sieht an diesem Beispiel, dass es eben nicht so einfach ist nach dem "Raubtierkapitalismus" zu brüllen. Es ist nur eine Seite der Medaille. Nehmen wir die Versammlungsfreiheit, die in unserem Grundgesetz verankert ist und von der Occupy und andere Protestgruppen rege Gebrauch machen. Sie ist ein Bürgerrecht, das von Menschen  vor über 200 Jahren während der Aufklärung erkämpft wurde - Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit -, und viele dafür auch starben. Von diesen Erfolgen und Errungenschaften profitiert heute jeder einzelne Demonstrant auf der Strasse! Wie es Menschen ergeht, die nicht in einem Land leben mit einer Verfassung die solche Bürger- und Zivilrechte vorsieht, können wir an dem traurigen Beispiel China sehen. Dort werden Menschen für ihr freie Meinungsäußerung verhaftet, gefoltert und zum Teil auch hingerichtet . Das sollten wir -  und vor allem die Occupierer - bei allem berechtigten Protest gegen Fehlentwicklungen und Mißstände in unserem System immer wieder aufs neue bedenken!

"Ich bin Kapitalist und stehe dazu. Ich will nicht das System abschaffen,ich will es grundlegend neu strukturieren", sagt Thomas Occupy. Das spricht für den Realitätsbezug dieses Aktivisten. Der Ruf nach Abschaffung des Sklaventreiber "Geld" ist schnell gemacht und sehr verlockend. Ich selbst hin lange Zeit diesem Ruf nach. Wie schön ist die romantische Vorstellung man könnte ein Wirtschaftssystem ohne den Vermittler Geld am Leben erhalten, auf der Basis von "Geben und Nehmen".  Auch diese Alternative habe ich am eigenem Leibe kennengelernt, als ich für mehrere Monate in Familien und Gemeinschaften lebte. Nach genau diesem Prinzip: Mitarbeit gegen Kost und Logis. Das Zahlungsmittel Geld blieb aussen vor. Und genau aus dem Grund habe ich es gemacht: Ich wollte herausfinden, ob der Vermittler Geld wirklich immer so wichtig ist? Heute würde ich sagen: In kleineren Gruppen Nein, in größeren Systemen wohl eher Ja. Alles andere ist fernab von der Realität im 21. Jahrhundert. Das System von "Gib- und Nimm" beruht ja auf folgenden Grundsätzen: Jeder gibt das was er kann - an Fähigkeiten, Talenten, Fürsorge - und nimmt im Gegenzug nur soviel wie er wirklich braucht. Sehr hehre und wünschenswerte Ziele. Aber die Realität sieht (leider) anders aus. Und das hat auch sehr viel mit den unterschiedlichen Bewußtseinsschwerpunkten von Individuen und Kollektiven zu tun. (Wie ich von Leuten aus diversen Tauschringen gehört habe, herrscht dort nachwievor ein Gefühl des Neides und der Ungerechtigkeit)

 Der grösste Fallstrick bei dieser Retro-Romantischen Vorstellung eines "Garten Edens" auf Erden, liegt in dem Bewußtsein der Leute, die solch ein "neues Paradigma" lautstark propagieren. Sie gehen davon aus, dass ihr mitfühlendes, auf Gleichheit beruhendes Bewußtsein sich auf jeden Menschen dieser Erde ausbreiten würde, wenn nur die Mechanismen und Hebel der (patriarchalischen) Unterdrückung aufgehoben wären. Dabei übersehen sie aber vollendes, dass jeder Mensch sich aufgrund seiner individuellen Entwicklung und dem eingebunden sein in unterschiedliche kulturelle Kontexte, auf einer anderen Bewußtseinsebene befindet - nämlich einer von  Beige bis Grün. Und diese Rufe nach einem neuem Paradigma kommen meistens von "grünen" Postmodernisten. Ein "Blauer" würde zum Beispiel ein solches System des gegenseitigen "Geben und Nehmens" als völlig unrecht bezeichnen, da er stark nach dem Verhaltenskodex von absoluten und unveränderlichen Prinzipien lebt, und damit meint zu wissen, was "recht" und "unrecht" ist.

Mögliche Forderungen, wie die komplette Abschaffung des Geldes, sind leider nicht von dieser Welt, wie sie sich uns derzeit darstellt und siedeln sich im Reich des Prä-Konventionellen an. Damit  verbunden ist eine romantische Vorstellung von der Rückkehr  des "Edlen und friedvollen Wilden", der in völliger Harmonie und Einklang mit der Natur und seinen Mitmenschen lebte und von dem "bösen Geld" noch nichts wusste, welches erst Jahrhunderte später von westlichen (männlichen) Imperialisten als Unterdrückungs- und Sklavenmittel eingeführt wurde. (Auch hier: Wahr, aber nur zumTeil. Es wird geflissentlich übersehen, das es diesen Edlen Wilden niemals gab: Brandrodungen und Menschenopfer waren bei den Mayas, Inkas und anderen "Hochkulturen" an der Tagesordnung).

Nein,  Menschen leben nun mal in (Austausch-) Beziehungen und Geld ist das entsprechende Tauschmittel der Moderne. Wir müssen ja gar nicht zurückgehen, wir können voran gehen, und zwar mit einer neuen Form des Geldes. Über die Verteilung, die Mechanismen , darüber kann und sollte man reden und dazu kann die Occupy-Bewegung einen wichtigen Beitrag leisten. Aber nur, wenn sich die Bewegung einer gewissen Transformation unterzieht und als wesentlicher Teil davon, dass sich die Beteiligten bewußtseinsmäßig (innerlich) weiterentwickeln, also die Spirale weiter hinauf von "Grün" nach "Gelb", der ersten wirklich integralen Stufe, die alle vorherigen sieht und wertschätzt. Ohne die vorherigen Stufen, wie "Orange" oder "Blau" hätte sich Grün und somit auch zwangsläufig eine Bewegung wie "Occupy" niemals entwickeln können. Und Entwicklung bedeutet immer ein Umschliessen und Integrieren von dem was bisher war, nicht ein Zerstören und Nivellieren. Wieder können wir das ganz anschaulich in der Natur beobachten: Ein Molekül umschliesst Atome, eine Zelle umschliesst  Moleküle und die darin enthaltenen Atome, ein Organismus umschliesst Zellen, Moleküle und Atome.  Jeder höhere Welle empfängt und umschliesst die vorherige. Zerstört man alle Atome, zerstört man damit alle Zellen, Organismen, Ökosysteme. Weil sie eine niedere, grundlegende Basis bilden auf die alle anderen aufbauen.

 Also, Ja, zu einem Ende der grenzenlosen Spekulationsfreiheit und Gier, und dem damit verbundenen "sozialisieren" der Verluste auf die breite Masse. Aber das geht nur, wenn sich die betreffenden Akteure innerlich weiterentwickeln, wenn also der "gierige Banker" irgendwann keine Lust mehr hat, noch mehr Millionen zu machen, wenn er dessen müde geworden ist und nach einem "Was gibt es sonst noch im Leben" fragt. Und diese innerliche Entwicklung gilt für alle Akteure jeglicher Couleur, egal ob Banker, Greenpeace-Aktivist, Occupierer oder islamischer Fundamentalist. Das Entscheidende ist die Bereitschaft zur innerlichen Weiterentwicklung. Deshalb, Nein, zu einem pauschalen undifferenzierten Keulenschlag: "Nieder mit dem ganzen kapitalistischen System", weil es ganz einfach an den Wurzeln des Problems  vorbeigehen würde. Natürlich gibt es eine Korrelation zwischen inneren und äußeren Faktoren - wie die Politik, das System und die Kultur in der das Individuum lebt -, aber zum jetzigen Zeitpunkt dieser Ausführungen ist es meiner Meinung viel wichtiger, sich auf die innere Bewußtseinsentwicklung zu konzentrieren. In den späteren Kapiteln werden wir zu den äußeren Faktoren zurückkommen.


Faktoren für die persönliche Weiterentwicklung

Wir kommen nun zu der Frage, was vorliegen muss, um eine Bewußtseinstransformation in Gang zu setzen? Welche Faktoren erleichtern die persönliche Transformation, dass Emergieren eine höheren Welle?
 Nach der Ansicht  von Ken Wilber sind dies vier Faktoren:
  1. Erfüllung
  2. Dissonanz
  3. Einsicht
  4. Offensein
"Erfüllung bedeutet, dass das Individuum ganz allgemein die grundlegenden Aufgaben einer bestimmten Stufe oder Welle erfüllt hat. (...) Ein Mensch muss ganz in den Genuß einer gegebenen Stufe gekommen sein, muss sie voll ausgekostet haben, um bereit zu sein, weiterzugehen. Jemand, der noch nach den typischen Belohnungen einer bestimmten Stufe hungert, wird einfach nicht nach anderen Ausschau halten." (Ganzheitlich handeln, S. 48)

"Wenn die betreffende Person andererseits ein Stadium ausgekostet hat und diese Stadium ziemlich satt geworden ist, dann ist sie zur Transformation bereit. Damit dies geschieht, muss es fast immer zu einer Art von Dissonanz kommen. Die neue Welle will sich durchsetzen, die alte Welle ringt um ihren Erhalt - das Individuum empfindet einen Zwiespalt und fühlt sich hin und her gerissen. Es muss auf jeden Fall eine Art tiefer Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Ebene geben. Man muss über sie beunruhigt, mit ihr unzufrieden und zutiefst frustriert sein, so dass es zu einer tiefen und bohrenden Dissonanz kommt.
Vielleicht ist man mit ihren inhärenten Begrenzungen oder Widersprüchen (wie Hegel sagen würde) in Konflikt geraten, oder man beginnt sich von ihr zu ent-identifizieren (wie Assagioli sagen würde), oder vielleicht ist man ihrer einfach müde geworden" (Ganzheitlich handeln, S48)

"An diesem Punkt hilft dem Individuum gewöhnlich eine Art von Einsicht in die Situation, um weitergehen zu können - Einsicht in das, was man wirklich will, sowie in das, was die gegenwärtigen Realität tatsächlich zu bieten hat. Bestätigung, Wille und die Absicht, sich zu verändern - sie alle können zu der Einsicht in die Situation hinzukommen und dazu beitragen, dass Bewußtsein voranzutreiben. Die Einsicht kann durch Innenschau, durch Gespräche mit Freunden, durch Therapie oder Meditation zustande kommen Meist geschieht das auf eine Art und Weise, die absolut niemand so recht versteht - nämlich durch das bloße Leben des Alltags."  (Ganzheitlich handeln, S. 48)

Schließlich, wenn alle diese Faktoren sich richtig zusammenfügen, wird es möglich, sich der nächsten Welle des Bewußtseins - tiefer, höher, breiter, umfangender - zu öffnen. (Ganzheitlich handeln, S.49)


Der Silberstreifen am Horizont

... dass die Politik zu einem Wirtschaftssystem zurückkehrt, das für die Menschen da ist...

... Ich war da, als die Chaoswolke subversiver Kreativer mit ihren Ideen die Welt veränderte...

... Ich kann dann nicht schlafen gehen, denn ich weiß, es kommt auf jeden von uns an... 
 
... "Man kann Occupy klein reden, man kann Occupy groß reden. Eine Wahrheit ist: Die Anti-Atom-Bewegung in Deutschland brauchte 40 Jahre, ehe sie Erfolg hatte, und schien manchmal nur noch eine Karikatur ihrer selbst. Der Historiker Paul Nolte sorgte sich vor Kurzem, „ob wir nicht in einem Vormärz leben, ob eine Revolution bevorsteht“. Und kam zu dem Schluss: „Es fehlt die konkrete Alternative. Was soll an die Stelle des jetzigen Systems treten?" ...

(Quelle: Stern, 21/2012)

Diese rhetorisch gestellte Frage des Herrn Professor Nolte möchte ich gerne aufgreifen. Es ist der bekannte Ausruf nach der Alternativlosigkeit zum derzeitigen System. Aber stimmt das wirklich? Ich glaube wir sind uns einig, dass Kommunismus, Sozialismus oder gar Diktatorische Systeme keine ernsthaften Alternativen zur Demokratie darstellen können. Der integrale Ansatz zeigt uns aber auf, dass es viel effektiver und effizienter wäre, wenn man versucht aus allen zur Verfügung stehenden Weisheiten und Theorien, welche uns heute aus allen Kulturen der Welt und der Wissenschaft zur Verfügung stehen, die jeweils besten und brauchbarsten Seiten herausgreift und zu einem neuem ganzheitlichen Ansatz zusammenfügen würde. In diesem würde jede Anschauung, jede Nationalität, jede Hautfarbe, jede Religion und jeder Wissenschaftszweig seinen Platz und seine Wertschätzung erfahren. Um dies zu ermöglichen, ist es aber notwendig zu verstehen, dass sich unsere gesamte Existenz/Natur aus hierarchischen Wellen und Ganzheiten zuammensetzt und aufbaut. Kurz, wir unterliegen einer ständigen Entwicklung zu immer höheren und komplexeren Formen der Existenz, angefangen von organischen Lebewesen über das Bewußtsein bis hin zu System- und Organisationsformen.

  "Diese miteinander wechselwirkenden Systeme erfordern eine Regierung, die in  der Lage ist, Nationen und Gemeinschaften im Bereich der gesamten Spirale innerer und äußerer Entwicklung zu integrieren ( nicht zu beherrschen). Was die Welt heute benötigt, ist die erste echt sekundärschichtige Form politischer Philosophie und Regierungsgewalt. (..) Eine solche Struktur wird keineswegs die US-Verfassung (oder die irgendeiner anderen Nation) ersetzen, sondern sie einfach in ein globales Netzwerk einbinden, das die wechselseitige Entfaltung und Förderung erleichtert - eine integrale und holonische Politik." (Ganzheitlich handeln, S.105)

Um für diese derzeitige Utopie - oder nennen wir es integrale Perspektive - weiter Zustimmung und Verständnis zu gewinnen, werde ich weiterhin versuchen durch Gespräche und schriftliche Arbeiten meinen bescheidenen Anteil dazu beizutragen. Der Occupy-Bewegung strecke ich meine geöffnete Hand entgegen, wenn sie willens ist sie zu ergreifen. Weil, es ist ganz einfach. Es geht um mehr, als um unsere "Ego-Launen", es geht darum transpersonal zu werden, über das Ego hinaus zu kommen - auf eine "Wir-Alle-Ebene" , auf der die wirklich grossen Probleme angegangen werden können. Während einer Versammlung rief Jan laut in die Menge: " Es geht ums Ganze, es geht um 7 Milliarden Menschen auf diesen Planeten." Ja, möchte ich ihm zurufen und es geht sogar noch ein Stück weiter: Es geht um die Entwicklung hin zu einer Weltgemeinschaft in ihrer ganzen kulturellen und ökologischen Vielfalt, hin zu einer "Einheit in der Vielfalt", mit all ihren Unterschieden, Farben und Zickzacklinien der regenbogenfarbenen Menschheit.

 So lasst es uns angehen und tun. Ken Wilber nennt uns, die Kinder der "68er",  die "Generation X", die ähnlich wie damals unsere Eltern, einen echten kulturellen und gesellschaftlichen Wandel hervorbringen können. Wir haben ins uns das Potential, die erste wirklich integrale Generation zu werden, die "Gelbe Bewußtseinsstufe" voll zu aktivieren, die alle anderen Stufen weiter mit nach oben zieht,  und nur auf Grundlage dessen, weltumfassende Probleme wie Krieg, Gerechtigkeit, Umweltschutz und Lebensmittelknappheit gelöst werden können. Und so möchte ich am Ende den  Aktivisten dieser Bewegung zurufen: Wir haben dasselbe Ziel und versuchen uns ihm auf unterschiedliche Weise zu nähern. Werden sich unsere Wege eines Tages noch einmal kreuzen?
"Wir warten auf die neuen globalen Gründerväter und -mütter, die ein integrales System von Regierungsgewalten schaffen, welches uns in eine stärker einbeziehende Zukunft führt. Ein System, das als ein Schrittmacher der Transformation für die gesamte Spirale menschlicher Entwicklung agieren wird und das die spezifische Form der Entwicklung jeder einzelnen Welle respektieren und doch jede einzelne und alle zusammen dazu aufrufen wird, noch größere Tiefe zu verwirklichen."
  - Ken Wilber -

Samstag, 14. Juli 2012

Eine Theorie von Allem Teil 3.1

 

3.1. Occupy und Hierarchien


Wachstumshierarchien kontra Herrschaftshierarchien

"Sobald wir jedoch zu Grün kommen, beginnt das sensible Ich mit der Verdammung praktisch aller Arten von Hierarchien und einem konzertierten Angriff auf sie, einfach weil Hierarchien tatsächlich oft an furchtbarer sozialer Unterdrückung beteiligt waren."(Ganzheitlich handeln, S.39)
"Obwohl das gesunde Grün einen Teil des postkonventionellen, weltzentrischen, universellen Bewusstseins darstellt, ist sein Bezug zur Wahrheit stark subjektiv. Genau deshalb, weil Grün wünscht alle Wesen gleichermassen zu ehren, verlässt es seine Bahn und lässt jede Person über ihre eigene Wahrheit entscheiden. Allen Glaubenssystemen, solange sie nicht anderen schaden, wird der gleiche Status eingeräumt. Deshalb ist das Selbst auf dieser Stufe tatsächlich das "empfindsame Selbst". Sich der vielen verschiedenen Kontexte und der vielen verschiedenen Wahrheiten, der Vielfalt und des Pluralismus bewusst, verdreht es sich bei dem Versuch, jeder Wahrheit Genüge zu tun, ohne dabei irgendeine zu verdrängen oder herabzusetzen." (Boomeritis, S.115)  Jeder möchte für seine Meinung, Hauptfarbe, sexuelle Gesinnung oder Geschlecht zunächst mal akzeptiert und toleriert werden, möchte damit am gesellschaftlichen Leben teilhaben, wie alle anderen auch. Aber die Schattenseite bei diesem ernsthaften und ehrlichen Bemühen es allen Recht zu machen, ist, dass die "Grüne Bewußtseinsstufe" keine Abstufungen und Rangfolgen anerkennt. Zum Teil aus gutem Grund, da die Geschichte voll ist mit abschreckenden Beispielen für Macht- und Herrschaftshierarchien. Zum anderen aber zu unrecht, da "Grün" aus  Unwissenheit damit alle Arten von Hierarchien ablehnt, also auch jene, die zu einem Wachstum zu mehr Tiefe und Reife führen.

Und hier kommen wir nun zu der grossen Chance der Transformation oder Weiterentwicklung der "Grünen" Bewußtseinswelle im Allgemeinen und der Occupybewegung im Speziellem. Keine Frage, in gewisser Form ist diese bestimmt schon im Gange, da sich wie alle Systeme und Gruppierungen auch diese Bewegung im ständigen Wandel und Austausch mit der Umwelt befindet. Kurz bevor ich Anfang April am nächsten Morgen abgereist bin, sagte mir Jan, dass sie jetzt schon viel schneller Leute aus dem Camp verweisen, die sich nicht an elementare Regeln halten ("Ich mach mein Ding, halt die Fresse"). Aber es könnte noch weiter gehen, ja es muss, da diese Bewegung aus meiner vollsten Überzeugung heraus eine der wichtigsten dieses Jahrzehnts ist, ganz einfach deswegen, da sie das "Potential" hat, tiefgreifende kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen anzustossen - ähnlich wie damals die "68er".

Wenn wir nun konstatieren, dass sich die Occupybewegung schwerpunktmäßig auf der "Grünen Bewußtseinsstufe" befindet, gehört für eine Weiterentwicklung oder Transformation als erstes dazu, sich mit dem Wert und dem Inhalt von Wachstumshierarchien auseinanderzusetzen. Nur dann ist es möglich gewisse Strukturen aufzubauen, weil nur dann können wir eine "Einheit in der Vielfalt" praktizieren, indem wir niemanden ausgrenzen, aber auch jeden seinen Platz zuweisen. Nur dann ist es möglich zielgerichteter vorzugehen und den "Hyperraumsprung" zu den Anfängen einer wahrhaft ganzheitlichen, integralen Sichtweise zu schaffen, die versucht alle vorhandenen Sichtweisen zu akzeptieren und zu integrieren, und nicht einzelne zu verdammen, nur weil sie nicht in die "eigene" Wahrheit passen!

 Dann wäre der Übergang auf die erste integrale, die "Gelbe" Bewußtseinsstufe möglich, was heissen würde, alle vorherigen Ebenen - von Beige bis Grün - wären darin integriert, das jeweils Gute daraus wäre mitgenommen  und es würde sich eine völlig neue Bewußtseinsstufe mit ihren inhärenten Fähigkeiten und Werten entwickeln. Nach diesem Prinzip  funktioniert unsere Evolution seit 14 Milliarden Jahren und warum sollten wir nicht versuchen damit in Einklang zu leben? Mit dem Leben an sich, das eine ganz bestimmte Richtung verfolgt, das offensichtlich von einer unsichtbaren Kraft hin zu mehr Ganzheit, Liebe und Harmonie angetrieben wird. Also genau die hohen Ideale und Ziele, die auch "Grün" vorgibt zu verfolgen, aber sie meist mit ihrer starren Verhaftung auf die eigene subjektive Wahrheit eher blockiert als fördert. Und ein ganz wesentlicher Schritt in diese Richtung wäre sich von der festen anti-hierarchischen Haltung zu lösen und sich für eine andere, wachstumförderliche Art von Hierarchie zu öffnen. Nur durch das Akzeptieren von Entwicklung und Rangfolgen kann man verstehen, wie sich ein Individuum sowie eine Kultur von der Ego - zur Ethno -  zur Weltzentrischen Bewußtseins- und Moralstufe entwickeln kann, und nur auf der letztgenannten sind die globalen Krisen und Probleme wirklich zu lösen.
 "Herrschaftshierarchien und Verwirklichungshierarchien. Die erstgenannten sind die starren gesellschaftlichen Hierarchien, die Werkzeuge der Unterdrückung sind; die letzteren sind Wachstumshierarchien, die tatsächlich notwendig sind für die Selbstverwirklichung von Individuen und Kulturen (und auch praktisch aller biologischen Systeme). Die Wachstumshierarchien sind es, die zuvor isolierte und fragmentierte Elemente zusammenführen. Isolierte Atome werden zu Molekülen zusammengebracht, isolierte Moleküle zu Zellen, isolierte Zellen zu Organismen, Organismen zu Ökosystemen, Ökosysteme zu Biosphäre - und so weiter. Kurz gesagt: Wachstumshierarchien verwandeln Anhäufungen in Ganzheiten, Bruchteile in Integration, Entfremdung in Zusammenarbeit. (...) Das integrale Sekundärschicht-Bewußtsein versteht die verschachtelte Hierarchie des Wachstums. Wenn wir also negativ auf alle Hierarchien reagieren, dann werden wir nicht nur ehrenhaft die Ungerechtigkeiten der Herrschaftshierarchien bekämpfen, sondern wir werden uns sehr wahrscheinlich auch selbst daran hindern, uns zur integralen Sekundärschicht weiterzuentwickeln. (Ganzheitlich handeln, S.39)


Was will Occupy eigentlich?

Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Klare Aussagen bezüglich der Forderungen der Bewegung sind schwer zu finden, und wenn, dann beziehen sie sich meist nur auf Meinungen einzelner Aktivisten, die mehr oder weniger von der Mehrheit der Bewegung mitgetragen werden. Im Camp wurde mir erzählt, dass eine klare Festlegung auf bestimmte Forderungen und Ziele vermieden wird, ganz einfach deswegen, weil man von den Medien, und den politischen Gegnern, nicht auf eine bestimmte Richtung "festgenagelt" werden will. Deshalb wird der Bewegung mangelnde Zielgerichtetheit vorgeworfen, was meiner Meinung nach nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Würde man (Wachstums-) Hierarchien und Abstufungen in der Bewegung zu lassen, würde das in Sachen Ausrichtung und Zielfindung einen klaren Sprung nach vorne bedeuten!

Nach einigem recherchieren bin ich auf eine Reihe von offenen Fragen an das derzeit existierende System gestossen. Es scheint mehr Mahnungen als Antworten zu geben. Ein Projekt von Occupy Frankfurt ist der Arbeitskreis "Occupy Money" , dem einige Finanz- und Wirtschafsexperten angehören. Diese haben folgende Fragen formuliert:

  • Wie können wir nachhaltige Geldsysteme schaffen?
  • Wie sehen Geldsysteme aus, die nicht regelmässig zusammenbrechen und uns beherrschen sondern die uns dienen?
  • Wo gibt es in der Vergangenheit und Gegenwart gute Beispiele, die funktionieren?  
  • Eine Hauptursache für Inflation, regelmäßige Krisen und Zusammenbrüche liegt in der fehlerhaften Konstruktion unseres Geldsystems. Davon profitiert eine kleine Minderheit von etwa 10 Prozent der Menschen. Die große Mehrheit zahlt drauf. Über die in allen Preisen und Steuern versteckten Zinsen beträgt diese Umverteilung von Arm zu Reich in Deutschland etwa 600 Millionen Euro pro Tag. Doch unser Geldsystem ist nicht gottgegeben. Wir können es neu gestalten!
(Quelle: Occupymoney.de/occupy-money.de Prof. Margrit Kennedy) 

Weitaus aufschlussreicher und informativer, was die Forderungen und Beweggründe angeht, ist ein jüngst erschiener Sternartikel (21/2012) über die Occupy - Bewegung. Darin kamen Occupierer aus Deutschland und den USA zu Wort. Unter anderem auch drei der engagierteren Aktivisten aus dem Camp in Frankfurt, denen es wirklich um etwas geht, die etwas bewegen wollen und die ich alle drei während meines Aufenthaltes kurz kennenlernen durfte. Lassen wir sie selbst sprechen:

Jan Umsonst (Pseudonym, Thai-Chi-Lehrer, 38, Occupy Frankfurt):

" Vier Jahre habe ich für mein Buch „Planet der verrückten Affen“ recherchiert, es sind 1000 Seiten zusammengekommen. In Occupy findet eine holistische, generalistische Konstante der Weltgeschichte ihren Ausdruck. Ich werde mich diesen Sommer als freies Radikal in der globalen Protestcloud bewegen, um später sagen zu können: Ich war da, als die Chaoswolke subversiver Kreativer mit ihren Ideen die Welt veränderte."

Thomas Occupy (Pseudonym, Aktivist, 52, Occupy Frankfurt): 

" Ich bin Kapitalist und stehe dazu. Ich will nicht das System abschaffen,ich will es grundlegend neu strukturieren. Gewalt lehne ich ab, so wie alle Aktivisten von Occupy Gewalt ablehnen. Als wir  kürzlich eine Pressekonferenz machten, baute die Polizei Überwachungskameras auf. Man hat Angst vor uns. Aus gutem Grund. Oft fragen uns Journalisten: Wie lange wollt ihr bleiben? Bis sich was ändert, antworten wir. Wir haben Geduld. "

Sascha Reynolds (Student, 26, Occupy Frankfurt):


"Für Occupy betreibe ich den Sender „Radio 99 Prozent“, bin am Kunstprojekt bei der Biennale Berlin beteiligt. Nächtelang sitze ich manchmal vor dem Livestream, wenn Tim Pool von Protestmärschen aus den USA berichtet, so angstfrei und sympathisch. Die Energie ist zum Schneiden. Ich kann dann nicht schlafen gehen, denn ich weiß, es kommt auf jeden von uns an. Dieses Gefühl der Solidarität ist viel stärker als das Gefühl der Ohnmacht, das einen angesichts der Macht der Finanzkonzerne befallen könnte."

Besonders interessant fand ich die Aussage eines Fondsmanagers, der sich dem Occupy - Money Arbeitskreis angeschlossen hat, und quasi an den Schaltstellen des weltweiten Turbokapitalismus sitzt:

Peter Grahn (Pseudonym, Fondsmanager, 34, Occupy Money + Occupy Frankfurt):

"Als Fondsmanager ist man nah dran an dem Zusammenspiel von Realwirtschaft, Finanzsystem und Politik. Die Entwicklung der letzten Jahre empfinde ich als zutiefst ungerecht. Das Hauptproblem des Kapitalismus ist seine unausweichliche Anfälligkeit gegenüber der giftigen Kombination von  Gewinnstreben, Überoptimismus und Disziplinlosigkeit. Hyman Minsky beschrieb diesen Kreislauf bereits 1975, Zentralbanker und Ökonomen ignorieren ihn heute noch. Ein durch „moral hazard“, also leichtfertiges Verhalten, exzessives Kreditwachstum und mangelnde Aufsicht entfesseltes Bankensystem hat zu einer ungerechten Vermögensverteilung und Schuldenüberlastung geführt. Occupy fordert global und friedlich, dass die Politik zu einem Wirtschaftssystem zurückkehrt, das für die Menschen da ist."

Was offensichtlich alle vereint ist ein Gefühl, dass irgendetwas aus der Balance geraten ist in unserem System?! Eine Gesellschaft, in der derjenige belohnt wird, der andere ausnimmt, ganz legal und ohne Konsequenzen, kann nicht mehr im Gleichgewicht sein. Wollen wir so weiterleben? Eine Vision von einem neuem Gesellschaftsvertrag liegt in der Luft, einer Gesellschaft, die auf Gerechtigkeit und Fairness beruht. Die Gretchenfrage lautet: Hat Occupy dafür die passenden Ideen, oder geht es zuerst mal nur um "Krawall" machen?

Bis hierher kann ich in weiten Teilen den oben gemachten Aussagen nur zustimmen. Gier, Macht, Materialismus und Ausbeutung sind die Pestbeulen der "Orangen - leistungsorientierten" Entwicklungsstufe. "Die Kehrseite der Aufklärung und des orangen Mems im Allgemeinen sind ebenso gut bekannt. Es gibt dort eine Neigung, die Welt abstrakt, ungebunden und in einer reduktionistischen Weise zu betrachten, was zu einer zunehmenden Entfremdung führt. Dies bedingt das Auftauchen vieler verschiedener materialistischer Philosophien und materialistischer Motivationen. Ökonomisches Denken tritt als das angebliche Mittel zu Befreiung in den Mittelpunkt und ein unbarmherziger Kapitalismus startet seine lange Karriere." (Boomeritis, S.106) Aber noch einmal, wie schon mehrmals betont, jede Entwicklungsstufe hat ihre Licht- und Schattenseiten. Und der Raubtierkapitalismus ist eindeutig einer der grössten Schatten der Modernen. Wenn wir also über die Moderne und damit auch über die Banken, die Industriestaaten und den damit verbundenen Kapitalismus nachdenken, lasst uns bitte gleichzeitig an die Guten wie auch an die schlechten Dinge denken.

 Ohne Zweifel, es ist eine der großen Leistungen der Bewegung, dass sie diese lange im verborgenen gehaltenen Schattenseiten nun ans Licht der Öffentlichkeit holt und thematisiert. Und das reicht auch zuerst mal aus, so die Bewegung. Auf der Suche nach einer gerechteren und faireren Welt müssen wir zuerst mal auf das aufmerksam machen, was seit Jahrzehnten schief läuft. Wir brauchen nicht sofort etwas zu ändern. Es reicht wenn sich irgendwann etwas ändert. Es scheint, als wäre der Wunsch nach einem Ende der Ausbeutung und Unterdrückung, dass einzige, was alle in der Bewegung eint und zusammenbringt. Über alles andere diskutieren wir basisdemokratisch. Und wenn es Stunden, Wochen oder Monate dauert.

Hier nun, so glaube ich, kann die Integrale Theorie einen wesentlichen Beitrag für einen Sprung nach vorne leisten. Diskutiert und gestritten wurde weiß Gott genug. Das wird auch immer so weiter gehen. Aber wie wäre es, wenn man jetzt über konkrete Strukturen reden würde, über eine geregelte Organisationsform, über Hierarchien ohne gleich nach Unterdrückung zu brüllen, und vor allem, über echte umsetzbare Entwicklungs- und Transformationsszenarien zum derzeitigen System? Im nächsten Kapitel wird es darum gehen.

Sonntag, 8. Juli 2012

Eine Theorie von Allem Teil 3


3. Die Occupybewegung aus integraler Sicht

 

Also gehen wir es an. Wir können wir nun die Occupybewegung mit dem Integralen Ansatz in Verbindung bringen? Oder anders gesagt: Wie können wir die theoretischen Ausführungen aus den ersten zwei Kapiteln dieser Abhandlung, mit den Erfahrungen während meines Aufenthalts im Camp zusammen bringen? Ich glaube, indem wir überprüfen, inwieweit die ausführlich dargestellte "grüne Bewußtseinsstufe" mit all ihren Errungenschaften und Pathologien auf diese Bewegung zutrifft.

Occupy ist eine "Grüne" Protestbewegung 

Existenz heißt, jeden einzelnen Moment zu leben, sagt Grün. Wir werden uns alle besser verstehen können und erkennen , wie wundervoll es ist, Mensch zu sein, wenn wir nur akzeptieren, dass jeder Einzelne gleichberechtigt und wichtig ist. Hierarchien sind unterdrückend und marginalisierend. Alle müssen an der Freude von Gemeinschaftlichkeit und Erfüllung teilhaben. Jeder ist mit allen anderen in der Gemeinschaft verbunden, alle Seelen reisen zusammen. Wir sind unabhängige Wesen, die nach Liebe und innerer Beteiligung streben. Die Gemeinschaft wächst dadurch, dass sie aus den Kräften des Lebens Synergien formt und jeder von künstlichen Trennungen befreit wird. (Boomeritis, S. 111)

 Rufen wir uns noch einmal in Erinnerung um was es bei "Grün" geht: Wie erwähnt, jede Stufe ist gleich wichtig und leistet ihren Beitrag zur Erhaltung der gesamten Spirale. So auch Grün. Dieser Stufe haben wir in den letzten Jahrzehnten grundlegende Initiativen des Bürgerrechts, des Gesundheitswesen und des Umweltschutzes zu verdanken (als Beispiele: Bündnis 90/die Grünen; Greenpeace; Attac uvm.) Es hat gewichtige und häufig überzeugende Kritiken an den Philosophien, der Metaphysik und der sozialen Praktiken der konventionellen Religionen (Christentum), der Regierungen (68er) und der Wissenschaft entwickelt, welche häufig durch ihre oft ausschließlichen, patriarchalische, sexistischen und kolonialistischen Ziele gekennzeichnet sind (Boomeritis, S40)

Somit haben wir "Grün" auch die berechtigte Kritik am derzeit weltweit herrschenden Raubtierkapitalismus zu verdanken, an dieser grenzenlosen Gier einzelner Individuen nach mehr Macht und Profit. Und damit ist "Occupy" im klassischen Sinne eine Protestbewegung der "Grüne Bewußtseinsstufe". Hier sammeln sich mehrere weltzentrische ("Wir-Alle-betreffende) Anliegen und Forderungen, wie ich bei meinem Rundgang durch das Camp beobachten konnte: Auf Plakaten und Schildern standen Parolen wie: "Keine Profite auf Kosten der Umwelt. Nachhaltige Wirtschaft", neben Aussagen wie" Ich will frei sein" und "Ihr spekuliert mit unserem Leben". Es geht also um Klimaschutz, individuelle Freiheit, Gleichberechtigung und Nachhaltigkeit. Alles sehr lobens- und erstrebenswerte Ziele und Forderungen. Und, um es noch einmal zu wiederholen: das ist die grosse Errungenschaft von "Grün", diesem vorläufigen Abschluss von fünf vorhergehenden Entwicklungsstufen.

  Menschen auf dieser Entwicklungsstufe möchten im Allgemeinen den vorherigen Entwicklungsstufen all ihre Fehltritte aufzeigen und im Besonderen der unmittelbar vor ihr liegenden: der Rational-egoischen. Die Gier und die Ausbeutung in einem kapitalistischem Gesellschaftssystem, der Imperalismus und die vermeintliche Unterdrückung von Minderheiten und Randgruppen, all das stört "Grün" ganz gewaltig und macht auf diese Auswüchse aufmerksam, zu Recht. Individuen auf dieser Entwicklungsebene wollen einfach wieder mit ihren Gefühlen und denen ihrer Mitmenschen in Berührung kommen, nachdem diese von der Rational-egoischen so unterdrückt und verdrängt wurden. "Bei Grün stehen Geschlechtergleichheit und ökologische Bewusstheit im Zentrum. Grün ist auf Kommunikation, auf Gleichberechtigung und Konsens ausgerichtet. Der Arbeitsplatz ist teamorientiert und demokratisch, mit viel Dialog und dem Austausch von Gefühlen." (Boomeritis, S.113)

 Aber leider schiesst "Grün" damit weit über das Ziel hinaus und wird zum "Supermagneten" für Narzissmus und Egozentrik. Nach dem Motto: "ICH kann die Welt alleine retten!"
"Ein typisches Ergebnis ist, dass das sensible Ich in seinem ehrlichen Bemühen zu helfen aufgeregt seine eigene Bedeutung übertreibt: Es wird im Besitz des neuen Paradigmas sein, welches Vorbote der großartigsten Transformation in der Weltgeschichte ist. Es wird die Gesellschaft, wie wir sie kennen, vollständig revolutionieren. Es wird alles in Frage stellen und neu definieren, was vor ihm war. Es wird den Planeten retten, Gaia retten, die Göttin retten; es wird einfach das allergrößte..."(Ganzheitlich handeln, S.41) Viel schlimmer noch, "Grün" will nicht nur auf Fehltritte aufmerksam machen, in seinem übertriebenen Bestreben leugnet es alle vorherigen Stufen der Entwicklungsspirale, also damit jene Stufen, die es "Grün" erst ermöglicht haben, soweit zu kommen. Das "sensible Ich" übertreibt also seine Bedeutung und Weltanschauung. Es sagt zwar, dass alle Meinungen gleichberechtigt sind, und keine besser oder schlechter ist als die andere, aber in Wirklichkeit läßt es nur eine Wahrheit zu: seine eigene.

In den Worten von  Ken Wilber: "Wer es nicht bis auf die konventionelle Stufe geschafft hat, dessen Angriff auf die Gesellschaft wird keine postkonventionelle (weltzentrische) Gesellschaftskritik, sondern eine präkonventionelle (egozentrische) Rebellion sein. Das Kernstück des Narzißmus - nämlich: "Niemand sagt mir, was ich zu tun habe!" - ist in den präkonventionellen Wellen sehr präsent." (Ganzheitlich handeln, S.36). .(...) Es sieht ganz so aus, als wären in diesem Fall erhabene moralische Ideale benutzt worden, um etwas zu rechtfertigen, was tatsächlich viel weniger edle Impulse waren. (...) Das ist ein Punkt von entscheidender Bedeutung, weil er uns auf folgende Tatsache aufmerksam macht: Ganz gleich, wie hehr, idealistisch oder altruistisch eine Sache erscheinen mag - von der Ökologie zur kulturellen Vielfalt bis zum Weltfrieden - , dass bloße Lippenbekenntnis für das betreffende Thema reicht nicht aus zu entscheiden, warum sich jemand tatsächlich für diese Sache engagiert."(Ganzheitlich handeln, S37)

 Von der Theorie in die Praxis

.."das bloße Lippenbekenntnis für das  betreffende Thema reicht nicht aus zu entscheiden, warum sich jemand tatsächlich für diese Sache engagiert"...man könnte den Satz von Ken Wilber eventuell so fortsetzen.."sondern seine Entwicklungsebene auf der das Individuum schwerpunktmässig steht!" Nach Aussen kann ich sagen: "Ja, diese Scheissbanken nutzen uns alle aus und wir müssen für ihre Zockermentatlität bezahlen." Ein Satz der zunächst einmal aus der objektiven Betrachtung - der "Es"-Perspektive oder der 3. Person -  heraus richtig und zutreffend erscheinen mag. Was wir dabei aber übersehen: Die betreffende Person formuliert diesen Satz aus einer gewissen subjektiven, inneren Motivation heraus - der "Ich-Perspektive oder 1. Person. Diese verschweigt uns das Individuum aber in der Regel.


Ich möchte ein konkretes Beispiel geben. Mit einem der aktiven und engagierten Occupierer war ich zu Mittag essen. Dabei erzählte er mir, wie viel Einsatz er wöchentlich für die Bewegung aufbringt, was er bisher in seinem Leben so gemacht hat und wie er sich in die Bewegung einbringt. Dabei ist mir schnell aufgefallen, das er überwiegend in der 1. Person spricht also von sich: seine politische Ansichten, seine Ideen für den Protest, seine Homepage und seine zahlreichen Aktionen die daheim noch in der Schublade liegen und auf Verwirklichung warten. Hier wird uns nun der Satz von Ken Wilber in seinem Verständnis sehr deutlich.."warum sich jemand tatsächlich für diese Sache engagiert.." Man kann ein hehres und idealitsiches Ziel in der 3. Person formulieren ("Kein Profit auf unsere Kosten; Kein Krieg in Vietnam"), es in der 2. Person (im Du oder Wir) durch Proteste und Kundgebungen ausdrücken, aber die 1. Person, und die damit innerlichen, wahren Beweggründe bleiben uns verborgen. In diesem Zusammenhang erwähnte ich im zweiten Kapitel das sehr anschauliche Beispiel von den Studentenprotesten in den 60er Jahren in Berkeley (Moralische Ideale als Rechtfertigung für niedere Impulse). Ein Beispiel aus der Neuzeit wären die "Wutbürger" die gegen Stuttgart 21 lange und lautstark demonstrierten. Eine Studie der Universität Göttingen zeigte auf, dass es den Wutbürgern neben der Kritik vor allem um Eigennutz ging.

Kurz: Für ein hehres und idealistisches Ziel zu kämpfen ist noch lange kein Beweiss dafür, dass man es auch wirklich von innen heraus erreichen will! Entscheidend dafür ist die innere Entwicklungsstufe auf der man sich befindet, also ob man sich entweder auf der ego - ethno - oder weltzentrischen Stufe befindet. Befindet man sich auf der egozentrischen Bewußtseinsstufe - angefangen von Beige bis Rot - und tritt nach aussen lautstark für weltzentrische Ideale auf, geht es dem Individuum in "Wirklichkeit" nicht um die Erfüllung dieser Forderungen, sondern um die Befriedigung seiner Egozentrik und seines Narzissmus. Er benutzt diese Ideale einfach als Rechtfertigung für seine niederen Impulse und seine Aggressivität. Frei nach dem Motto: Mir sagt keiner was ich zu tun habe und schiebt euch euren Krieg, euren Bahnhof oder eure Banken in den...!

Und diese gefährliche Mischung von hohen weltzentischen "grünen" Idealen, mit niederen egozentrischen "roten" Impulsen, finden wir nach meiner Beobachtung in der Occupybewegung in Frankfurt! Das Camp ist ein Paradebeispiel dafür, wie der subjektive Pluralismus und Relativismus (jede Meinung ist gleichberechtigt und alles ist relativ), der so typisch ist für die "Grüne Welle", funktioniert: Angefangen bei den Vollversammlungen, wo ganz basisdemokratisch, jeder seine Meinung und Gefühle lautstark mitteilen kann, was dann des öfteren in Diffamierungen und Beleidigungen ausartet ("Du scheiss Nazi"), weil, ich mach hier mein Ding und sag was ich will und lass mir das von keinem verbieten. Weiter bei dem Camp als Sozialstation, wo niemand ausgeschlossen oder ausgegrenzt wird, wo Flüchtlinge, Abhängige und politische Minderheiten aufgenommen werden, was dann soweit führt, das die Stadt Frankfurt den Verantwortlichen Auflagen macht und das Camp als "Umschlagplatz für Drogen und Kriminelle" bezeichnet (unabhängig ob das zutrifft oder nicht), was aber im Camp niemanden interessiert, weil wir pfeifen auf Recht und Vorschriften  und machen unsere eigenen Gesetze.  Bei uns ist jeder willkommen, egal, ob es ihm wirklich um Veränderungen an dem maroden Bankensystem geht oder er hier nur seine Egoshow abziehen will. Oder nur ein Parasit ist, der sich durchfüttern lässt.

Nein, wir machen es nicht so wie der Rest der kaputten Gesellschaft, wir unterdrücken und diskriminieren keine Minderheiten, wir sind besser, wir sind mitfühlender, als ihr, also haltet eure Klappe! Ich trommle bis morgens um vier Uhr und verleihe damit meinem Unmut über das herrschende System Ausdruck, ob ich damit meine Mitbewohner im Camp beim Schlaf störe interessiert mich nicht, weil ich mach mein Ding, und das kann mir keiner verbieten, klar!?

Aber Halt, höre ich jemanden aus dem Camp zu mir schreien: "Du Rassist, du Unterdrücker, sprichst hier von einem hohen weltzentrischen Bewußtsein und dabei grenzt du andere aus, die dir nicht in den Kram passen aus. Du Heuchler, du Kapitalist, wir machen das nicht, bei uns sind alle GLEICH.."

Und genau da liegt der grösste Irrglaube der "Grünen Bewußtseinswelle" und damit auch der Occupybewegung. Alles was irgendwie nur nach Hierarchie oder Rangordnung aussieht, wird kategorisch abgelehnt. Weil uns die Vergangenheit gezeigt hat, was aus Systemen wurde, die hierarchisch geführt wurden: Frauen, Schwarze, anders Gläubige, ethnische Minderheiten wurden ausgegrenzt, unterdrückt und vernichtet.
 
"Ja", möchte ich dem grünen Aktivisten aus der Ferne zurufen, "damit hast du zweifelsohne recht". Du vergisst oder verdrängst aber völlig, dass es in der Natur noch andere Hierarchien als Herrschaftshierarchien gibt, nämlich verschachtelte Hierarchien, die man oft "Wachstumshierarchien nennt. Diese zeigen uns, wie im Grunde die ganze Natur nach diesem verschachteltem Prinzip aufgebaut ist (vom Atom zum Molekül zur Zelle zum Organismus). Wenn man diese Wachstumshierarchien erkennt und anerkennt bieten sie dem Individuum sowie dem Kollektiv eine grosse Chance sich vertikal weiterzuentwickeln. Und so möchte ich dem aufgebrachten Occupierer zurückrufen: "Schau, dass ist eure grosse Chance voran zu schreiten, in eurer persönlichen Entwicklung sowie in euren politischen Forderungen. Es ist löblich und bemerkenswert das ihr in eurem Camp niemand ausgrenzt, ihr zunächst mal jeden aufnehmt, weil diese Menschen sonst überall verstossen und unterdrückt werden. Aber wenn ihr ehrlich seid, kommt ihr damit an eure eigenen Grenzen, was Kapazität und Toleranz angeht. Ihr verliert euch in Streitigkeiten wegen jeder Kleinigkeit, ihr habt einen immensen Zeit- und Arbeitsaufwand bevor ihr eine Entscheidung treffen könnt, weil ihr stundenlang alles ausdiskutiert, solange bis auch jeder seinen Standpunkt einbringen konnte und sich am Ende niemand unterdrückt fühlt.

Wie wäre es, wenn ihr versucht diese positiven Errungenschaften und Werte mitzunehmen, mit hinüber zu nehmen in eine höhere Ebene? Das Gute aus eurem Prozess mitzunehmen und zu integrieren, aber auch offen zu sein für das Neue, für eine noch weitere und tiefere Perspektive. Diese setzt aber das Akzeptieren von Hierarchien voraus, nämlich Wachstumshierarchien, diese setzt das Akzeptieren der guten Errungenschaften der Vergangenheit voraus und diese setzt im ganz Speziellem eine Rücknahme der Egozentrik voraus. Ihr seid schon auf einer hohen Entwicklungsstufe, aber ihr seid deshalb nicht besser oder schlechter wie "Orange" oder "Blau" und vor allem, es kann noch weiter gehen, das Potential dazu ist in jedem von uns vorhanden. Welche Bedingungen und Voraussetzungen dazu vorhanden sein müssen und was eine echte Transformation wirklich bedeutet, dies alles möchte ich versuchen im nächsten Kapitel aufzuzeigen."

Sonntag, 10. Juni 2012

Brot und Spiele

Toooooorrrrr!

 Das, verbunden mit lautem Geschrei und Böllerschüssen, konnte ich gestern in meiner unmittelbaren Nachbarschaft hören. Deutschland hat sein Auftaktspiel gewonnen. Seit zwei Tage rollt das runde Leder wieder, die schönste Nebensache der Welt beherrscht in den nächsten Wochen den Alltag. Es ist angerichtet und es wird in Schwarz-Rot-Gold geschmückt: Balkone, Bierbäuche, Fahnemasten, Außenspiegel, Autotüren.  Das schwarz-weiße Trikot wird übergezogen, der Deutschlandschal um den Hals gehängt und auf gehts zum Nachbarn. Es wird der Grill angefeuert, die Bruzzler aus den EM-Sonderwochen vom Rewe auf den glühenden Rost gelegt und der Kasten Bier aus dem kühlen Keller geholt.
"Ahh, wie ist das schön, so ein Tag so wunder wunderschön, ahhh wie ist das schön", Fußballerherz, was willst du mehr. Die nächsten drei Wochen versprechen eine einzige Party zu werden: jeder Deutschlandsieg steigert die Euphorie, die Niederlande putzen wir auch weg, Vorrunde geschafft, Achtelfinale, Viertelfinale, Halbfinale..., der Traum kann Realität werden, könnten wir es wirklich schaffen?! Deutschland im kollektiven Freudentaummel, vergessen all die Sorgen,  dass tägliche Scheiss malochen, der Stress mit den Nachbarn, der Verlust an den Aktienmärkten, die steigenden Sprit- und Lebensmittelpreise, egal, ganz egal, für drei Wochen herrscht kollektive Amnesie. Für drei Wochen vergessen wir die täglichen Sorgen, das Hetzen und Drängen, die Eurokrise, die Pleitegriechen und die neuen Pleitespanier, Italien, Portugal, und was damit alles zusammenhängt. Jetzt ist EM, jetzt ist Freude und Ausgelassenheit angesagt, jetzt vergessen wir all den Mist, zumindest für die nächsten drei Wochen, danach dreht sich die Welt wieder weiter und dann vielleicht mit Deutschland als Europameister! Was soll da noch kommen? Eine Europameisterschaft als Tranquilizer, als Beruhigungspille, als Opium fürs Volk.

Ich entschuldige mich jetzt schon mal. Gleich zu Beginn, ist wohl besser. Ich entschuldige mich ein Spielverderber zu sein! Sorry, an all die eingefleischten Fußballjunkies, bei denen für drei Wochen der Neocortex (Teil des Gehirns der für abstrahierendes und selbständiges denken zuständig ist) aussetzt und dafür der bisher von der Hirnforschung unentdeckte "Soccercortex" aktiviert wird. Ein kleines Areal im Stammhirn, das ausgesprochen auf Bier, Laolawellen, dem Geruch von verbrannten Steaks, die Nationalhymne und Blondinnen in engen Deutschlandtrikots reagiert. Willkommen im alten Rom! Hä,was hat eine Fußballeuropameisterschaft mit Julius Cäsar zu tun? Nun ja, es gibt gewisse Parallelen.
Um das gemeine Volk ( zur damaligen Zeit auch Pöbel genannt) im alten Rom zu belustigen, und bei Stange zu halten, schickten die Herrschenden Sklaven und Gefangene in die Arena, um sie von den  Löwen zerfleischen zu lassen. Der Pöbel gröllte und ging mit einem Leib Brot unterm Arm zufrieden nach Hause. Heute brauchen wir keine Löwen mehr. Heute haben wir RTL, die Bildzeitung und die Sonderangebote von Aldi und Lidl. Und alle zwei Jahre ein Großereignis, welches, wie damals im alten Rom, die Arenen mit dem breiten Fußvolk füllt, bei dem aber niemand mehr umgebracht wird. Ok, mal abgesehen von den Tausenden von Gehirnzellen, verursacht durch exzessiven Alkoholgenuss, aber das ist ein anderes Thema.

Und noch eine Gemeinsamkeit läßt sich zu den alten Römer finden: während die Spiele liefen - ob nun die Gladiatorenkämpfe oder eine Fußballeuropameisterschaft - konnten im Hintergrund die Machthabenen in aller Ruhe die Weichen für tiefgreifende Veränderungen für das Leben ihres Volkes stellen. Aber wie gesagt, kriegt ja keiner mit... Insofern ist der Beginn dieser Europameisterschaft ein Glanzstück in Sachen Timing, und ein wirklich großes Geschenk für die Politiker.

Die Woche der Wahrheit

Seit rund zwei Jahren berichte ich in sporadischen Abständen immer wieder mal in kürzeren oder längeren Artikeln, über die Zusammenhänge der Eurokrise und dem Thema Geld und Schulden. Wer meine letzte Radtour nach Griechenland aufmerksam verfolgt hat, wird festgestellt haben, dass dieses Thema ein Schwerpunkt der Reise war (u.a., mit wenig auskommen, sich unabhängig machen von den finanziellen Ansprüchen, wie hoch ist der Stellenwert des Geldes in anderen Ländern). In letzter Zeit habe ich mich diesbezüglich ein wenig zurückgehalten, vieles wurde gesagt, aber vor allem wollte ich tiefer in die Hintergründe eintauchen, die Lage aus einer objektiven Sicht beurteilen und vor allem nach Möglichkeiten suchen, welche eine Lösung anbieten könnten. Ich glaube nun wird es Zeit, sich wieder zu Wort zu melden.

 Insbesondere in dieser Woche. Der Ausruf  "Woche der Wahrheit"  wurde in den vergangenen Monaten im Zusammenhang mit der Eurokrise schon oft gemacht. Meistens von irgendwelchen "Alternativ- und Insiderblogs" im Netz. Nun wird aber auch der Mainstream wach und nimmt sich intensiv dem Thema an. Und zwar im ganz konkreten Zusammenhang mit einem Scheitern der Einheitswährung. Das mag daran liegen, das die Einschläge immer näher kommen und die Dichte der Schreckensmeldungen immer mehr zunimmt: Ahnungslos in die Euro-Dämmerung  schreibt der Spiegel; Scheitert Spanien, dann auch der Euro schreibt das Handelsblatt; Sorge um Spanien und die Weltkonjunktur schreibt die FTD. Und nicht zu vergessen: die bevorstehenden griechischen Parlamentswahlen am 17.06. Falls die Linksradikalen die Wahl mit großem Vorsprung gewinnen sollten, würde das zu einem sofortigen Aufkündigen der Sparmaßnahmen durch die EU führen. Aber auch ein Patt, bei dem erneut keine Regierungsbildung möglich wäre, würde zu unvorhersehbaren Schockwellen auf den internationalen Finanzmärkten führen, wie der Spiegel und die Zeit schreiben. Auch wenn Spanien gestern unter den Rettungsschirm geschlüpft ist, ist dies noch kein Grund zur Entwarnung, ganz im Gegenteil, es bleiben noch vielen Antworten offen, wie die Zeit schreibt. In diesen, wie in vielen anderen Artikeln der Vergangenheit, klingt es an: diese ganzen Maßnahmen sind weitere Beruhigungspillen, Zeitkäufe, für die nervösen und verunsicherten Finanzmärkte rund um den Globus. Also, nachwievor das gleiche Spiel wie seit rund zwei Jahren.

Wenn man die ganze Entwicklung schon etwas länger verfolgt hat, hat man gesehen, dass es solche und andere Meldungen in den vergangenen Monaten schon öfters gab. Nur ein weiteres Zeichen, dass die Schuldenkrise noch lange nicht überstanden ist. Nun mehren sich aber die Zeichen, das es endgültig auf eine finanle Phase hinausläuft! Das die Handlungsspielräume immer kleiner werden! Das man wirklich von einer "Woche der Entscheidungen" sprechen kann. Und zwar mit globalen Auswirkungen! Und bei all den Diskussionen sollte man nicht vergessen: einen wirklichen Ausweg, der die Ursachen der Krise an den Wurzeln packt, habe ich bisher im Mainstream noch nicht gelesen. Ich meine, dazu müsste man einen grösseren Gesamtzusammenhang heranziehen, und viele verschiedene Bereiche berücksichtigen. In einem integralen, ganzheitlichen Ansatz wäre das möglich, und darüber mache ich mir derzeit intensiv Gedanken und sichte unterschiedliches Material.

In genau einer Woche werden wir in mancherlei Hinsicht schlauer sein. Zum einen, ob es wirklich eine "Woche der Wahrheit" war, was die Schuldenkrise angeht, zum anderen, ob wir mit einem Bein im Achtelfinale stehen, und damit das Thema Schuldenkrise noch mehr im kollektiven Fußballtaummel untergeht. Wie gesagt, ein perfektes Timing, des Zufalls oder wem auch immer. Lassen wir die Spiele beginnen und brüllen aus vollem Halse: Toooooooooorrrrrr...


Donnerstag, 7. Juni 2012

Eine Theorie von Allem Teil 2

 

2. Entwicklung ist eine Abnahme der Egozentrik

 

Im ersten Kapitel haben wir gesehen, dass es eine evolutionäre Entwicklung und Ausbreitung im Individuum in Form von immer komplexeren Stadien oder Wellen gibt, welche die zuvor durchlaufende Ebene nicht "vergisst", sondern mit in die nächst höhere integriert, um deren Potential weiterhin zu nutzen und gleichzeitig neue, nie dagewesene Fähigkeiten und Werte entwickelt. Mir ist es an dieser Stelle noch einmal wichtig zu betonen, dass ich diese theoretischen Ausführungen  deshalb mache, um eine breite Ausgangsbasis für die spätere praktische Anwendung dieser Entwicklungsspirale zu bekommen. Das heisst, die Theorie trifft auf die Realität, und somit kann ich sie zum Abgleich mit meinem eigenen Erfahrungshorizont nutzen. In meinem Fall wären das insbesondere, die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Occupy-Bewegung, und den gemachten Erfahrungen während meiner Griechenlandradtour, insbesondere meines dreimonatigen Winteraufenthaltes in Hellas. Es geht einfach darum, dass diese Theorie dabei helfen kann - und wie wir sehen werden, es auf unglaublich präzise Art und Weise tut - , zu verstehen, warum Menschen mit sehr hohen idealen und moralischen Ansprüchen im niederen Sumpf von Egozentrik und Subjektivismus stecken bleiben. In diesem Zusammenhang ist es außerordentlich wichtig zu erwähnen, dass die Stufenkonzeption der Spiral Dynamcis auf unglaublich hohen Mengen von Daten und Nachforschungen basiert. Es ist nicht nur eine konzeptionelle Idee oder Lieblingstheorie, sondert sie basiert vollständig auf einer bemerkenswerten Menge an Beweisen. Die Spiral Dynamcis von Beck und Cowan, wurden weltweit an über 50.000 Menschen getestet, wobei keine grundlegenden Abweichungen vom Hauptschema entdeckt wurden. Desweiteren waren die Erfinder von Spiral Dynamics weit davon entfernt, lediglich Analytiker zu sein. Beide waren an der Diskussion, die zum Ende der Apartheid in Südafrika führte, maßgeblich beteiligt.
 
 Schauen wir uns nun die dargestellte Spirale und ihre einzelnen Entfaltungswellen etwas näher an. Zum einen, um ein besseres Verständnis für die Errungenschaften zu bekommen, zum anderen, aber auch für die damit einhergehenden Pathologien jeder höheren Entwicklungsstufe. Dazu Ken Wilber: "Denn jedes einzelne Stadium der Entwicklung bringt nicht nur neue Fähigkeiten, sondern auch die Möglichkeit neuer Katastrophen, nicht nur neue Potentiale, sondern auch neue Pathologien - neue Stärken, neue Krankheiten. Es ist schon ärgerlich, aber für jede Steigerung des Bewußtseins muss ein Preis bezahlt werden, und dieser "Dialektik des Fortschritts" (gute Nachrichten, schlechte Nachrichten) sollte man stets eingedenk sein. Nichtsdestoweniger ist erst einmal festzuhalten, dass jede sich entfaltende Welle von Bewußtsein zumindest die Möglichkeit einer stärkeren Ausweitung von Fürsorge, Mitgefühl, Gerechtigkeit und Erbarmen mit sich bringt - auf dem Wege zu einer alles umfassenden integralen Einbindung." (Ganzheitlich Handeln,S35).

An dieser Stelle möchte ich noch einmal ein Schaudiagramm einfügen, um ein noch besseres Verständnis zwischen den Weltanschauungen und Ich-Identitäten der einzelnen Ebenen zu bekommen.


      Weltanschauung                           Ebene                               Ich-Identität


      archaisch  (instinktiv)                     Beige                                 impulsiv
       
      magisch  (animistisch)                    Purpur/Rot                        egozentrisch
                                                            
      mythisch (Zugehörigkeit)               Blau                                   konformistisch

       formal (rational)                           Orange                              gewissenhaft

       pluralistisch                                  Grün                                  individualistisch
___________________________________________________________

       integral (holistisch)                       Gelb/Türkis                        autonom
                                                           
Diagramm 2: Weltanschauungen und Individualität (aus Ganzheitlich handeln)

Man kann die einzelnen Ebenen der Spiral Dynamics auch ganz vereinfacht in drei Gruppierungen zusammenfassen:
  • Präkonventionell (egozentrisch): Beige - Purpur - Rot
  • Konventionell (ethnozentrisch): Blau - Orange
  • Postkonventionell (weltzentrisch): Grün - Gelb - Türkis
 "Während die Entwicklung sich vom Präkonventionellen zum Konventionellen zum Postkonventionellen bewegt (oder vom Egozentrischen zum Ethnozentrischen zum Weltzentrischen), nimmt die Menge von Narzißmus und Egozentrik langsam, aber sicher ab. Statt die Welt und andere als eine Erweiterung des Ich zu behandeln, begegnet der reife Erwachsene des weltzentrischen Bewußtseins der Welt, wie es dieser entspricht, und zwar als ein individualisiertes Ich in einer Gemeinschaft anderer individualisierter Ichs, die mit wechselseitiger Anerkennung und Achtung miteinander umgehen. Die Entwicklungsspirale ist eine Spirale des Mitgefühls, die sich von "Ich" zu "Wir" zu "Wir alle" ausweitet und von dort aus offen ist für eine wahrhaft integrale Zusammenschau." (Ganzheitlich handeln, S. 35).  Hier  ist es wichtig zu erwähnen, dass Narzissmus per se nichts schlechtes ist. Im Gegenteil, für unsere Entwicklung als selbstbewußte und reife Erwachsene ist er sogar notwendig. Wenn wir geboren werden (also auf der Stufe 1: Beige beginnen) befinden wir uns in einem vollständigen narzisstischen Zustand. Das Kleinkind nimmt nur sich, seine Gefühle und Bedürfnisse wahr. Es hat einfach noch nicht die Fähigkeit entwickelt, die Bedürfnisse anderer zu berücksichtigen oder zu erkennen. Das kommt erst in späteren Jahren hinzu, und deshalb ist es so wichtig zu erkennen, dass wir uns in einem ständigen Entwicklungsprozess befinden. Nur kann bei dieser "Dialektik des Fortschritts" leider auch einiges schief gehen, und wir bleiben stecken oder entwickeln uns sogar zurück. "Die meisten Psychologen sind sich darin einig, dass es zwar viele Möglichkeiten gibt, Narzissmus zu betrachten (und viele verschiedene Formen von Narzissmus), dass es sich dabei im allgemeinen jedoch um einen normalen Zug der Kindheit handelt, aus dem ein Mensch  idealerweise herauswächst, zumindest in einem erheblichen Ausmaß. (...) Während Stärke und Fähigkeiten seines Bewußtseins allmählich wachsen, kann sich das Kind seiner selbst und anderer bewußt werden. Schließlich vermag es sogar, sich in andere hineinzuversetzen und auf diese Weise Fürsorge, Mitgefühl und eine großzügige integrale Aufnahmebereitschaft zu entwickeln, die ihm nicht angeboren sind." (Ganzheitlich handeln, S30)

Wir sehen also, dass Entwicklung mit einer zunehmenden Komplexität und Erweiterung einhergeht. Dies können wir auch in der Natur beobachten. Wenn wir uns die Entwicklung von Lebewesen und Organismen ansehen, werden wir feststellen, das jede höhere Lebensform gleichzeitig mehr Potential und Fähigkeiten, wie auch Krankheiten und Pathologien zur Verfügung hat. Hunde können Krebs bekommen, Atome nicht. (Ganzheitlich handeln, S.35). Das Gleiche gilt für die geistige bzw. bewußtseinsmäßige Entwicklung in menschlichen Individuen. "Entwicklung beinhaltet zu einem erheblichen Maße abnehmenden Narzißmus und wachsendes Bewußtsein - oder die Fähigkeit, andere Menschen, Orte und Dinge zu berücksichtigen und somit jedem Fürsorge zukommen zu lassen." (Ganzheitlich handeln, S.31). Dies ist für unsere weiteren Ausführungen von grundlegender Bedeutung. Wir wir sehen werden spielt der Narzißmus bei einer "grünen" Protestbewegung, wie Occupy, eine wichtige Rolle, und ist einer der Hauptgründe, warum es innerhalb der Bewegung zu keinem Fortschritt kommt, sie zunehmend verflacht und in der öffentlichen Wahrnehmung verebbt. Und das, obwohl "Grün" schon zu den höheren Stufen zählt und eigentlich die niederen integriert und transformiert haben sollte!

Chancen und Pathologien der Grünen Stufe

Wir könnten jetzt zu jeder einzelnen Welle die entsprechenden Errungenschaften und damit einhergehenden Pathologien aufzählen. Da sich diese Abhandlung aber mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemen beschäftigen will, konzentriere ich mich hauptsächlich auf  "Grün", weil sich auf dieser postkonventionellen Stufe der Entwicklungsspirale gleichzeitig die größten Chancen wie Risiken befinden.

Wenn wir uns noch einmal die Grafik aus dem ersten Teil vor Augen rufen, sehen wir, dass "Grün" der vorläufige Abschluss von ganzen sechs Entwicklungsstufen ist! Von hier aus passiert ein "Quantensprung" in die ersten integralen Bewußtseinsstufen. Von daher fungiert "Grün" als Sprungbrett zu den ersten Stufen des Integralen Bewußtseins, oder zu einer weltzentrischen, "Wir alle" - Anschauung. Damit kommt dieser letzten Stufe der ersten sechs "Existenzebenen" eine wichtige Aufgabe und Verantwortung zu. Von hier aus erst kann sich eine echte postkonventionelle ( weltzentrische ) Sichtweise entwickeln, welche sich dann auch mit weltweiten Problemen, wie Umweltschutz, atomare Abrüstung und Klimaschutz beschäftigen kann, ganz einfach deswegen, weil Individuen, die sich auf dieser Bewußtseinsstufe befinden, von innen heraus diese Problematik verstanden haben und die erkannten äußeren Bedingungen ändern wollen. Ein Mensch auf einer egozentrischen Stufe (wie Rot) hat einfach noch nicht die inneren Fähigkeiten entwickelt, sich um dieses weltweiten, uns alle betreffenden Problematiken zu kümmern, da er noch ganz mit seinen eigenen Problemen beschäftigt ist. Und wie wir gesehen haben befinden sich 90% der Weltbevölkerung auf Rot, Blau und Orange und somit auf ego- oder ethnozentrischen Ebenen.

Zurück zur "Grünen Welle". Hier versammeln sich gleichzeitig die größten Chancen, wie auch die größten Hindernisse! Wie erwähnt, jede Stufe ist gleich wichtig und leistet ihren Beitrag zur Erhaltung der gesamten Spirale. So auch Grün. Dieser Stufe haben wir in den letzten Jahrzehnten grundlegende Initiativen des Bürgerrechts, des Gesundheitswesen und des Umweltschutzes zu verdanken (als Beispiele: Bündnis 90/die Grünen; Greenpeace; Attac uvm.) Es hat gewichtige und häufig überzeugende Kritiken an den Philosophien, der Metaphysik und der sozialen Praktiken der konventionellen Religionen (Christentum), der Regierungen (68er) und der Wissenschaft entwickelt, welche häufig durch ihre oft ausschließlichen, patriarchalischen (männlich dominiernd), sexistischen (Unterdrückung der Frau in der katholischen Kirche) und kolonialistischen Ziele gekennzeichnet sind (Boomeritis, S40). Aber auf der anderen Seite, so effektiv und richtig all diese Kritiken waren und sind, versucht "Grün" alles was sich nur im Entferntesten hierarchisch, ausgrenzend oder rassistisch anhört, also alles, was sich nur ein wenig außerhalb der eigenen Wahrheit und Anschauung befindet, anzugreifen und zu zerstören.  Und das mit einer unglaublichen Enerige und Wut, was katastrophale Folgen hat. Das hat bestimmt mit der hohen Empfindsamkeit des Selbst auf dieser Stufe zu tun ("Fühlendes Ich"). Nochmal, das ist zuerst mal sehr bewunderswert, da Grün, einfach gesprochen, Gefühle und Emotionen eines Subjekt wieder in den Mittelpunkt des Handelns gestellt hat, nachdem diese von der vorherigen, rational geprägten Stufe (Orange) weitesgehend verdrängt und verleugnet wurden.

 Aber leider ist "Grün" damit weit über das Ziel hinausgeschossen, hat das "Kind mit dem Bade ausgeschüttet", und angefangen alle vorherigen Entwicklungsstufen zu ignorieren und zu verurteilen! Die Individuen auf der "Grünenstufe" sind von einem starken "Subjektivismus" (keiner sagt mir, was ich zu tun habe) und einem weitem pluralistischen Relativismus - jede Meinung ist gleichwertig ("relativ") - geprägt und infiziert. Übersetzt heisst das: "Was für euch wahr ist, das ist nicht notwendigerweise auch für mich wahr. Rechtens ist einfach das, worauf sich die Individuen oder Kulturen zu einem gegebenen Zeitpunkt geeinigt haben. Es gibt keinen universellen Anspruch auf Wissen oder auf Wahrheit. Jede Person hat die Freiheit, seine eigenen Werte herauszufinden, die dabei nicht für andere verpflichtend sind. Du machst dein Ding, ich mache mein Ding" (Boomeritis, S.41)

Bei aller berechtigten Wertschätzung für diese Meinungsvielfalt und Toleranz, hat diese Herangehensweise natürlich auch eine Kehrseite. Versammlungen die auf grünen Prinzipien beruhen, dauern gewöhnlich mehrere Stunden, solange bis jeder seine Gefühle ausgedrückt hat. Es fndet ein endloses Abarbeiten von Meinungen und Ansichten statt, wodurch es selten zu Entscheidungen oder zielorientierten Handlungen kommt, da bei solch einer Entscheidung, bestimmt irgendjemand sich unterdrückt oder ausgegrenzt fühlen würde. Es wird alles getan um alle Perspektiven mit einzubeziehen, nichts auszuschliessen, da alles den gleichen Wert und Rang hat. So läuft man sich für gewöhnlich tot, streitet sich über Marginalien und kommt zu keinem Ergebnis. In der 68er Generation gab es dazu einen bekannten Spruch: "Freiheit ist eine endlose Versammlung!"

Aber es kommt noch schlimmer. Die weitaus größte Kehrseite, und gleichzeitig große Gefahr, dieser grünen Entwicklungsstufe, ist die völlige Leugnung aller vorherigen Stufen! Allen voran der unmittelbar davor liegenden - der "Orangen". "Grün" vergisst oder verdrängt völlig, dass eine Entwicklung von mindestens sechs Stufen hinter ihr liegt, um da zu sein, wo sie sich jetzt befindet. Und hier bekommen wir schon eine leichte Vorahnung, wie wir langsam den Bogen hinüber zum realistischen Bezug dieser Entwicklungsspirale spannen, da es für diesen Konflikt zwischen "Grün" und "Orange" keinen besseren Vergleich gibt, als den Kampf von Occupy gegen das Bankensystem. Aber bevor wir uns intensiver damit beschäftigen, möchte ich noch bei dieser Pathologie von Grün bleiben. Durch den starken subjektiven und gefühlsmäßigen Bezug fungiert die Grüne Entwicklungsstufe wie ein Magnet für einen überbordenden Narzissmuss. Getreu nach dem Motto: "Ich mach meins, du machst deins", könnte man auch sagen: "Pass auf, niemand sagt mir was ich zu tun habe." Und damit bewegt sich "Grün", obwohl auf einer weltzentrischen ("Wir alle") Ebene, in das gefährliche Fahrwasser der egozentrischen Ebene ("Ich allein"). "Wer es nicht bis auf die konventionelle Stufe geschafft hat, dessen Angriff auf die Gesellschaft wird keine postkonventionelle (weltzentrische) Gesellschaftskritik, sondern eine präkonventionelle (egozentrische) Rebellion sein. Das Kernstück des Narzißmus - nämlich: "Niemand sagt mir, was ich zu tun habe!" - ist in den präkonventionellen Wellen sehr präsent." (Ganzheitlich handeln, S.36).

 Hier wird es nun glaube ich Zeit, für eine Wörterbuchdefinition des Begriffes Narzissmus, um einen klareren Blick auf diese "pathologischen Ich-Störung" zu bekommen:

"Exzessive Beschäftigung mit dem eigenen Ich, seiner Wichtigkeit und seinen Fähigkeiten usw.; Egozentrik."

Ergänzend dazu Ken Wilber: " Dennoch ist Narzißmus nicht einfach die Überbewertung des Ich und seiner Fähigkeiten, sondern eine damit einhergehende Unterbewertung anderer und ihrer Leistungen. Nicht, ein bestimmtes Maß an Selbstachtung zu besitzen ist problematisch - entscheidend ist die gleichzeitige Abwertung anderer. (Ganzheitlich handeln, S.30)

Und hier haben wir es. "Die gleichzeitige Abwertung anderer", ist das zersetzende Gift des Narzissmus, und damit leider auch der Grünen Entwicklungswelle. Wir (Ich!) haben die einzige Wahrheit für die neue Weltordnung, das neue Paradigma, den Weltfrieden, der Rettung von Gaia (der Erde), der Wiederkehr des göttlichen Prinzips auf Erden. Alles was vor uns war ist fanatisch, faschistisch, ausbeuterisch, sexistisch,  unterdrückend, zerstörend, versklavend. Das ist verstörend und desillusionierend. Obwohl "Grün" so grosse Chancen hat sich zum integralen Bewußtsein weiterzuentwicklen, zu einem weltweiten Integralismus, verhindert es gerade durch seine starre Haltung diese Entwicklung. Aber erst wenn immer mehr Menschen sich bewußtseinsmäßig (innerlich) auf einer postkonventionellen (weltzentrischen) Ebene befinden, können sie nicht nur mehr Verständnis für Umweltprobleme und Weltfrieden aufbringen, nein, sie können vor allen Dingen akzeptieren, dass es weltweit Menschen auf unterschiedlichen Bewußtseinsebenen gibt - von Purpur bis Grün -, und dass jede Welle seine Existenzberichtigung hat. Mit einem Satz: Verständnis und Mitgefühl würden sich ausbreiten!

 Aber dafür muss Grün zuerst mal eine Abstufung und Entwicklung in der Natur, sowie im Bewußtsein jedes einzelnen anerkennen, was aber vehement abgelehnt wird ("Ausgrenzung, Unterdrückung") und statt dessen von einem "Flachland" des Bewußtseins ausgegangen wird ("Es gibt keine absolute Wahrheit, alles ist gleich"). Das wäre ungefähr so, als würde ein 18-jähriger junger Mann leugnen, dass er jemals ein 3-jähriger kleiner Knirps war, von dem aus er sich bis zu heutigen Tag weiterentwickelt hat.

Bevor ich nun langsam zum Ende dieses zweiten Teils komme, möchte ich noch ein sehr passendes Beispiel aus der Praxis der "Grünen Pathologie" anführen. Dieses spielte sich Anfang der 60er während der Proteste von Studenten in Amerika ab: "Während der Studentenproteste in Berkeley behaupteten praktisch alle Studenten, sie agieren von der Warte universeller moralischer Prinzipien - zum Beispiel "Der Krieg in Vietnam verletzt universale Menschenrechte, weshalb ich als ein moralisches Wesen mich weigere, in diesem Krieg zu kämpfen. Doch haben Test übereinstimmend gezeigt, dass nur eine Minderheit der protestierenden Studenten aufgrund postkonventioneller moralischer Prinzipien handelte. Die Mehrheit agierte aus präkonventionellen egozentrischen Antrieben heraus: "Mir hat niemand zu befehlen, was ich tun soll! Also nehmt euren Krieg und schiebt ihn euch in den ...(...) Es sieht ganz so aus, als wären in diesem Fall erhabene moralische Ideale benutzt worden, um etwas zu rechtfertigen, was tatsächlich viel weniger edle Impulse waren. (...) Das ist ein Punkt von entscheidender Bedeutung, weil er uns auf folgende Tatsache aufmerksam macht: Ganz gleich, wie hehr, idealistisch oder altruistisch eine Sache erscheinen mag - von der Ökologie zur kulturellen Vielfalt bis zum Weltfrieden - , dass bloße Lippenbekenntnis für das betreffende Thema reicht nicht aus zu entscheiden, warum sich jemand tatsächlich für diese Sache engagiert."(Ganzheitlich handeln, S37)

Ich glaube, nun wir haben genug Grundlagenkenntnisse gesammelt, um diese in der Realität einem Lackmustest zu unterziehen. Bewegen wir uns nun langsam aus den trockenen Hallen dieses Spektrum des Bewußtseins hinaus in das gleißende Licht der Welt des 21. Jahrhunderts. Um eine erste grosse Protestbewegung dieses Jahrzehnts näher kennen zu lernen. Gelegenheit dazu hatte ich am Ende meiner Griechenlandradreise im April 2012. Eine Nacht verbrachte ich im Occupy- Camp vor der EZB in Frankfurt, und konnte einige Impulse und Eindrücke aufsammeln. Versuchen wir nun im dritten Teil dieser Abhandlung, dass soeben dargestellte auf die Motive und Inhalte dieser Bewegung anzuwenden.




Sonntag, 27. Mai 2012

Eine Theorie von Allem Teil 1

1.  Die Wellen der Existenz



Vorbemerkung

"Integral -  dieses Wort bedeutet integrieren, zusammenführen, vereinigen, vernetzen, umfangen. Dabei geht es nicht um Uniformität und nicht um ein Ausbügeln all der wunderbaren Unterschiede, Farben und Zickzacklinien der regenbogenfarbenen Menschheit. Es geht vielmehr um eine Einheit in der Vielfalt, in der man Gemeinsamkeiten zusammen mit unseren wundervollen Unterschieden genießen kann."
- Aus Ganzheitlich handeln, Ken Wilber -

Heute möchte ich mit diesem Essay eine Einführung in den Integralen Ansatz nach Ken Wilber geben. Da dieser sehr komplex und umfangreich ist, nehme ich mir für mein Thema, das ich hier aufzeigen will, nur den Aspekt der Bewußtseinsstufen aus diesem Ansatz heraus. Des weiteren kann man bei solch einer ersten Einführung sehr schnell mehr Verwirrung als Aufklärung stiften. Ich werde  mich nach besten Kräften bemühen, dies zu vermeiden.
Die Integrale Theorie basiert im wesentlichen auf dem Philosophen und Denker Ken Wilber. Von einigen  Kommentatoren wird er, ohne mit der Wimper zu zucken, der "Einstein der Bewußtseinsforschung" genannt. Er gehört zweifellos zu den größten Denkern des 21. Jahrhundert. Vor gut 4 Monaten, während meines Winteraufenthaltes in Griechenland, bin ich auf die Theorie und die Werke von Wilber aufmerksam geworden. In den Jahren zuvor hatte ich den Namen schon einmal gehört, ihm aber nie nähere Beachtung geschenkt. Im Gegenteil, das Wenige, was ich von ihm wusste, tat ich als eine weitere "ach so schlaue Theorie" von einem weiterem "Ach so Oberschlauen" ab!  Nach der Lektüre der ersten Bücher und den zahlreichen Gesprächen mit einem ausgesprochenen Kenner und Experten seiner Werke, hat sich meine Einstellung dazu radikal verändert. Noch nie zuvor hat eine Theorie bei mir in so kurzer Zeit so hohe Wellen geschlagen. Schnell konnte ich  erkennen, dass diese "Theorie von Allem", all jenes verbindet, mit dem ich mich in den letzten Jahren so intensiv beschäftigt hatte; von Freud bis Nietzsche; von der Chaostheorie bis zum Zen-Buddhismus.

 Die Integrale Theorie nach Ken Wilber versucht eine umfassende Sicht des Menschen und der Welt zu entwickeln. Dabei versucht sie, prämoderne, moderne und postmoderne, östliche und westliche Weltsichten sowie spirituelle Einsichten und wissenschaftliches Denken zu integrieren. Ein gewagtes Unterfangen und ob ihm das gelingt, vermag jeder selbst zu beurteilen, nachdem er sich näher mit seinen Werken beschäftigt hat.

 Ich möchte hier keinen "Personenkult" betreiben oder den guten Herrn Wilber auf einen Thron setzen. Nach allem was ich gelesen habe, ist ihm das selbst zuwider und auch ein wenig unangenehm. Nach der Veröffentlichung seines ersten Buches, mit gerade einmal 23 Jahren, wurde er von vielen Experten in dem siebten Himmel gelobt. Nachdem er ein Jahr diesen Ruhm ausgekostet hatte, entschied er sich, sich weitesgehend aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Ganz einfach deswegen, um nicht weiterhin auf irgendwelchen Bühnen von Kongressen oder Lesungen zu stehen, sondern sich seiner wahren Passion zu widmen: dem unermüdlichen Forschen nach der Wahrheit. Seitdem lebt ein bescheidenes und zurückgezogenes Autorenleben in den USA. In einem seiner Bücher erwähnte er einmal die Bürde, die mit dem Erkennen der Wahrheit verbunden ist: „Wem es erlaubt ist zu sehen, der trägt gleichzeitig als Verpflichtung auch die Bürde, das von ihm Gesehene in eindeutigen Worten mitzuteilen, so lautet die Absprache. Dir wird der Einblick in die Wahrheit unter der Bedingung gewährt, sie an andere weiterzugeben."


Mit diesem Essay möchte ich versuchen einige scheinbare Widersprüche in vielen derzeitigen Diskursen aufzulösen. Insbesondere was aktuelle politische und gesellschaftliche Themen angeht, wie zum Beispiel die Occupy-Bewegung oder die Europäische Schuldenkrise. Diese Themen sind eng verwoben mit meiner eigenen Suche nach Wahrheit und Tiefgründigkeit und beschäftigen mich daher schon einige Zeit. Mir schwannt jetzt schon, dies wird kein leichtes Unterfangen. Das Ganze möchte ich auf die Erkenntnisse der Integralen Theorie stützen, verbunden mit  eigenen Erfahrungen, Beobachtungen und Erkenntnissen der letzten Jahre, insbesondere den letzten sechs Monaten und dem damit verbundenen Aufenthalt im Occupy-Camp Frankfurt.


Also, gehen wir es an!


Die bemerkenswerte Spirale

Um ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, warum immer wieder auf kultureller wie individueller Ebene Interessengruppen aufeinander prallen, und nur gegenseitiges Unverständnis füreinander empfinden, ist es hilfreich, einen Blick in die Wissenschaft der Entwicklungspsychologie zu werfen.

"Entwicklungspsychologie ist das Stadium des Wachsens und der Entwicklung des Geistes - das Stadium innerer Entwicklung und der Bewußtseinsevolution. Also lassen Sie uns fragen: Kann die Entwicklungspsychologie Licht auf dieses Problem werfen?"
- Aus Ganzheitlich handeln, Ken Wilber -

In diesem Feld der Forschung tummeln sich einige renommierte Namen von Forschern und Persönlichkeiten, wie  Abraham Maslow, Jürgen Habermas oder Clare Graves. Unter diesen Forschern gab  es natürlich Dutzende von Meinungsverschiedenheiten und widersprüchlichen Ansichten. Aber in gewissen Grundzügen waren sich diese Forscher einig und sprachen von dem Wachstum und der Entwicklung des Geistes als eine Aufeinanderfolge sich entfaltender Stufen oder Wellen ( Ganzheitlich handeln S17)

Der letztgenannte Forscher, Clare Graves, entwickelte ein Entwicklungsmodell des Bewußtseins, welches nicht linear von unten nach oben verläuft, wie eine Leiter, sondern spiralförmig ineinanderfließend und überlappend, wie eine Meeresmuschel. Deshalb bekam es den Namen "Spiral Dynamics". Es beruht auf einer breiten empirischen Basis und wurde von der nachfolgenden Forschung bestätigt und verfeinert, jedoch nicht entkräftet. Zum besseren Verständnis wurden die Einzelnen, nach oben hin breiter werdenen Ebenen mit Farben belegt.


 

Abb. 1: Spiral Dynamics nach Don Beck und Christopher Cowan


 
Angestossen durch die intensive Pionierarbeit von Clare Graves wurden die "Spiral-Dynamiken" von seinen Schülern Don Beck und Christopher Cowan weiter verfeinert und stellen sich heute so wie oben angezeigt da. Die Spiral Dynamics sind ein wesentlicher Bestandteil der Integralen Theorie von Ken Wilber, auch wenn sie zwischenzeitlich von ihm erweitert und verfeinert wurden und der Schwerpunkt auf einem noch komplexeren und umfangreicheren Modell liegt. Aber für die Herangehensweise und die Aufgabe in diesem Essay sind sie nachwievor als grundsätzliche Einführung in die Entwicklungsstufen des Bewußtseins sehr hilfreich und passend.

Worum geht es nun bei dieser spiralförmigen Entwicklung des Bewusstseins? Es geht zunächst einmal darum, dass wir aufgrund des schlagenden Beweismaterials aus jahrzehntelangen Studien anerkennen sollten, dass wir als menschliche Individuen alle diese bewußtseinsmäßige Entwicklung durchlaufen. Ausnahmslos, egal ob Chinese, Amerikaner oder Europäer. Wir fangen als Säugling an und befinden uns auf der ersten Stufe der Spirale: Beige. Diese ist gekennzeichnet durch Instinkte und Gewohnheiten. Es ist die Ebene grundlegenden Überlebens; Nahrung, Wasser, Wärme, Zugehörigkeit, Sex und Sicherheit haben Vorrang. (Ganzheitlich handeln S22). Und um gleich anfängliche Verwirrung auszuschliessen: diese Entwicklungsstufen gelten individuell wie kulturell. Deshalb ist zum Beispiel die erste Stufe, sowohl bei Neugeborenen anzutreffen - Nahrung, Wärme, Zugehörigkeit -, sowie bei Alzheimerpatienten im letzten Stadium oder hungernden Massen (die sich in gewissem Sinne in einer Regression befinden und die Spirale quasi rückwarts durchlaufen - zurück zu den ursprünglichen Sinnen und Instinkten).

Von dieser ersten Stufe aus entwickeln sich Individuen und Kulturen weiter voran, von der instinktiven zu der magisch-animistischen Ebene (Purpur: "Ahnengeister/Voodo-Zauber"), weiter zu der egozentrisch- impulsiv gesteuerten Ebene (Rot: Mächtige Götter/"Kinder im Trotzalter, Feudalreiche"), zu der zielbewusst-/autoritären Ebene (Blau: "Macht der Wahrheit/religiöser Fundamentalismus"), zu der erfolgreich-strategischen Ebene (Orange: "Streben und Trachten/Materieller Gewinn/Investementbanker") und schließlich zu der gemeinschaftlich-egalitären Ebene (Grün: "Menschliche Verbindungen/Gemeinschaftsgefühl/ Das fühlende Ich/ Greenpeace"). Hier geschieht nun ein vorläufiger Abschluss der Entwicklung und deshalb werden diese ersten sechs Ebenen, auch "Ebenen der Grundexistenz" genannt. Danach vollzieht sich ein gewaltiger Sprung der Bewußtseinsentwicklung, "eine evolutionäre Verschiebung im Bewußtsein". Bisher wurden erst zwei dieser größeren "Seinsebenen" erforscht, Gelb und Türkis, und die letzte Ebene, die Integrale, taucht erst langsam am Horizont auf. In diesem Essay möchte ich mich aber hauptsächlich auf die ersten sechs Ebenen (bis Grün) berufen, da diese weltweit am meisten verbreitet sind. Laut Ken Wilber (Ganzheitlich Handeln, S 21ff) befinden sich ca. 90% der Weltbevölkerung auf den Ebenen Rot, Blau und Orange, 10% auf Grün. 1% auf Gelb und 0,1% auf Türkis.

In diesem Zusammenhang ist es weiterhin wichtig zu verstehen, dass diese Spirale in jedem von uns ist. Dies hatte ich weiter oben schon erwähnt, und ich werde nicht müde, es immer wieder zu tun, ganz einfach deswegen, weil es zum grundlegenden Verständnis dieser Theorie elementar wichtig ist - und für alle weiteren Ausführungen.  Dazu sagt Ken Wilber:" Darüber hinaus wurde durch viele weitere Forschungen bestätigt, dass jedes einzelne Individuum alle diese Meme (Ebenen) potentiell zu seiner Verfügung hat. Und deshalb werden die Linien gesellschaftlicher Spannung völlig neu gezeichnet: Sie beruhen nicht auf Hautfarbe, wirtschaftlicher Klasse oder politischer Zugehörigkeit, sondern auf dem Typ von Mem (Ebene), von dem aus eine Person tätig ist. In einer besonderen Situation ist es nicht mehr "Schwarz gegen Weiß", sondern vielleicht Blau gegen Purpur, Orange gegen Grün und so weiter. Und während niemand die Hautfarbe wechseln kann, kann er doch sein Bewußtsein verändern.  Don Beck formuliert das so: " Die Betonung liegt nicht auf Typen von Menschen, sondern Typen in Menschen." (Ganzheitlich Handeln, S21)Das heißt nichts anderes, als das wir die Ebenen je nach unseren Kapazitäten leben, bewusst oder unbewusst, in Antwort auf entsprechende Lebensbedingungen. Wenn wir uns jetzt die oben dargestellte Grafik näher anschauen, werden wir aufgrund der farblichen Schattierungen schnell festellen, dass jede nächsthöhere Ebene die vorherige integriert, was bedeutet, sie integriert deren Fähigkeiten und Werte und bringt gleichzeitig auf der höheren Ebene völlig neue, eigene hervor.  Es ist mehr ein fließender, als linearer Prozess, gekennzeichnet durch Strömungen, Wirbeln und Wellenbewegungen. Jede neue Ebene hat ihr eigenes Set an Werten und Fähigkeiten, die es Menschen ermöglicht, in Ihrem jeweiligen Lebenskontext zu überleben.


Soweit, so gut. Fassen wir kurz zusammen: Unsere Entwicklung als Individuum und als Kollektiv verläuft  spiralförmig nach oben zu immer komplexeren Ebenen. Die unteren werden dabei nicht "ausgelöscht" oder vergessen, sondern deren Werte und Fähigkeiten in die nächst höheren mit übernommen (integriert). Diese Entwicklung ist kein Automatismus. Es kann auch zu einem Stillstand auf einer Ebene kommen oder gar zu einer Rückentwicklung (z.B. Alzheimer). Entscheidend für ein voranschreiten in der Entwicklungsspirale ist  unser kultureller Kontext ( der Eingeborene im Urwald wird, solange er in seiner Sippe lebt, niemals auf die Idee kommen, seine Nahrung anders zu beschaffen, als mit Pfeil und Bogen), sowie die Notwendigkeiten und Bedürfnisse (eventuell wird aber eines Tages sein Urwald abgeholzt und es besteht somit die Notwendigkeit sich andere Quellen der Nahrungsbeschaffung zu erschliessen - Ackerbau, Tauschhandel oder die Umsiedlung in eine Stadt. Er ist "gezwungen" sich weiterzuentwickeln, um zu überleben).


Nach diesem grundlegenden Verständnis von Entwicklungsebenen in einem Individuum - sowie in einem Kollektiv - sollten wir recht schnell erkennen können, dass bei vielen derzeitigen Problemen einfach unterschiedliche Entwicklungsebenen aufeinanderprallen, die voneinander nichts wissen, ja, sogar nichts voneinander wissen wollen. Jeder pocht auf sein Recht als alleiniger Inhaber der richtigen Weltanschauung. Von seiner Stufe aus bertrachtet ist dies auch völlig in Ordnung. Es fehlt einfach die Fähigkeit, in den ersten sechs Existenzebenen quasi über den Tellerrand nach unten oder oben zu schauen. Dies ist kein Vorwurf, sondern ein Akt der natürlichen evolutionären Bewußtseinsentwicklung. Es fehlt das grundlegende Verständnis für die Position (oder Ebene) des anderen. Erst ab der ersten "Seinsebene", der Gelben, wird dies möglich sein. Aber wie wir gesehen haben, sind wir davon weltweilt noch weit entfernt und der Großteil der Bevölkerung befindet sich noch auf den "niederen" Stufen Rot, Blau und Organge. Darum kann es nicht darum gehen, die "Speerspitze" der Entwicklung mit gerade mal 10% Bevölkerungsanteil voranzutreiben, sondern zur Gesundung der gesamten Spirale beizutragen, also ihr Fundament zu stärken, weil darauf alle höheren Stufen aufbauen und sie ansonsten in sich zusammenbrechen würde.  Als kurze Beispiele für diese Konflikte zwischen den einzelnen Ebenen seien hier genannt: die (Orange) "europäische Troika" gegen das (blaue) griechische Volk; die (grüne) Occupybewegung gegen die (orangen) gierigen Banker; der (blaue) puritanische Prediger gegen  den (grünen) transzendenten "Osho"-Anhänger; die (roten) Hells Angels Rocker gegen den (blauen) rechtschaffenden Staat. Auch hier ist es wichtig zu erwähnen, dass es in einer Troika, in einem griechischem Volk oder eine Protestbewegung unterschiedliche Ebenen der Entwicklung gibt. Die gesamte Farbpalette der Spiral Dynamics von Purpur bis Grün ist vertreten. Aber es gibt einen Bewußtseinsschwerpunkt auf einer Ebene, eine Durchschnittsmenge, wie z.B. Blau bei den Griechen, was aber nicht heißt, dass Rot, Orange oder  Grün (in Ansätzen) nicht vorhanden wären. Wir müssen aber bei unseren weiteren Betrachtungen von diesen Bewußtseinsschwerpunkten in Populationen und Bewegungen ausgehen, um ein besseres Verständnis für die aufzuzeigenden Problemfelder zu erlangen.


In diesem ersten Kapitel haben wir eine erste Ahnung davon bekommen, warum es für viele derzeitigen Probleme keine einfachen Lösungen und Parolen gibt, auch wenn man diese immer wieder aus Protestbewegungen und spirtuellen Kreisen hört. Mit Parolen wie, "Kapitalistenschweine", " blutsaugende Troika" oder "der weltweiten Verschwörung der Eliten" ist es einfach nicht getan. Es ist richtig, dass die Banken Milliarden verspekulieren und die Verluste dann durch steuerfinanzierte Rettungsschirme "sozialisieren". Und es ist auch richtig, und für die aufkommende Postmoderne wichtig, dagegen zu protestieren, sich zu empören und es einer breiten Masse und den Politikern mitzuteilen. Aber es ist eben nicht die "ganze" Wahrheit, sondern maximal die Halbe. Es macht einfach mehr Sinn alle Beweggründe mit einzubeziehen und dann auf Grundlage dessen, eine Lösung und einen Ausweg für diese Auswüchse der Moderne zu finden. Bisher hörte ich immer nur gegen was demonstriert wird, aber nicht für was.  Eine "Theorie von Allem" muss auch die Ansichten von allen berücksichtigen, auch wenn es aus dem gerade zu bekämpfenden oder verhaßten Lager kommt. Das Alte (vorherige) umschliessen, nicht zerstören, und dann etwas Neues entstehen lassen. Nur dann ist ein Lösungansatz möglich, der alle Ansichten miteinbezieht und somit zu einer tragfähigen Basis für die Entwicklung aller Bewußtseinsebenen beiträgt. Mit diesem "Rüstzeug" können wir nun versuchen, uns diesem "Clash der Titanen" weiter zu nähern, um der Frage nach einer Perspektive weiter auf den Grund zu gehen. Und um eventuell sogar am Ende einen breiten Lösungsansatz aufzuzeigen. Es wird eine Herkulesaufgabe werden, soviel ist klar.