Montag, 30. Juni 2014

Stille Wasser sind attraktiv

Heute zufällig über dieses junge Naturtalent gestolpert. Ihr Gedicht finde ich so schön und so tiefgehend, dass ich es hier mit euch teilen möchte. Danke Julia!


Stille Wasser sind attraktiv - Julia Engelmann
(short Version)

"Ich, ich bin ein Nerd, aber kein schicker Hipster,
mehr ein Vieldenker, voll Hirngespenster
ich surfe auf keiner Mode-Klischee-Retro-Welle
Ich surfe im Internet
such Lesebrillengestelle für echte Augen,
um Bücher zu lesen und Texte zu schreiben
und nicht um Fotos zu schießen und mich bei Facebook zu zeigen
Und manchmal hab ich das Gefühl, ich bin anders und allein
keiner scheint mir ähnlich und keiner scheint mir nah zu sein,
und manchmal hab ich das Gefühl, niemand ist wie ich,
Ein Platz, an den ich passe – den gibt es für mich nicht
Aber warum bin ich anders und was muss noch passieren?
Ich mein‘, was mach ich falsch? Ich will doch bloß dazugehören.
Aber wozu denn gehören? Und was soll das denn heißen,
weil wir alle doch anders und dadurch wieder gleich sind
Und es geht doch um den Inhalt, viel mehr als um die Form
Es geht doch um den Einzelfall, viel mehr als um die Norm
Es geht nicht um Physik, sondern um Phantasie
Und vor allem geht’s ums Was, viel mehr als um das Wie.
Es geht auch darum, dass wir uns kennen,
mehr als, dass wir mal einsam waren
und es geht nicht um das, was uns trennt,
sondern um das, was wir gemeinsam haben
Es geht nicht ums gewinnen,
sondern darum, dass du kämpfst
es geht nicht um den Takt an sich,
sondern darum dass du danced,
Es geht nicht drum, was wir haben,
sondern um, was wir daraus machen
Es geht nicht um den Witz an sich,
sondern darum dass wir lachen
Es geht nicht drum, was wir tragen, wie wir lächeln, wie wir reimen
Es geht darum, was wir sagen, ob wir echt sind, was wir meinen.
Vielleicht geht’s nicht ums Happy End,
sondern mal heute nur um die Geschichte.
Vielleicht geht’s nicht darum, ob ich anders,
sondern darum, dass ich Ich bin
Vielleicht geht’s nicht darum, die ganze Welt zu erfassen
und alles zu verstehen
Vielleicht geht’s darum „Hakuna Matata“ zu sagen
und einfach mal gerne zu leben.
Weil, es geht doch um den Inhalt, viel mehr als um die Form,
Es geht um deinen oder meinen Einzelfall, viel mehr als um die Norm
Es geht nicht um Physik, sondern um Phantasie
und vor allem geht’s ums Was, viel mehr als um das Wie.
Und was soll das überhaupt heißen?
Was soll das überhaupt heißen, jemand ist sonderbar und eigenartig,
das sind doch bloß Synonyme für besonders und für einzigartig
Jemand sagt dir: „Du bist anders“, Dann denk dir für dich: „Anders ist nicht falsch, ist bloß `ne Variante von richtig“
Und wer andere abgrenzt, grenzt sich selber ein
Wer andere Schwach macht, glaubt nicht stark zu sein
ich mach mein Herz weit und lass Leben rein,
weil ich dran glaube gut genug zu sein
Und dann treff´ ich dich…
Und du siehst mich und du nimmst mich wahr,
Bist bei mir und bist für mich da,
Nimmst meine Schatten und machst die Sicht klar,
machst mich wahrhaftig, machst mich sichtbar
Und auf den ersten Blick bin ich vielleicht nicht so cool,
für manche vielleicht sogar langweilig.
Aber ich hör dir gerne beim reden zu und ich mag deinen Klang,
weil ich dich mag und wie wir die Welt für uns drehen
und dadurch wirst du für mich schön
Und ich finde meinen Platz und ich finde meinen Raum in der kleinsten gemeinsamen Schnittmenge aus deiner und aus meiner Welt
Wir sind unser kleinstes gemeinsames Vielfaches,
Wir sind das, was uns zusammen hält,
Und wir beide, wir sind mehr als die Summe unserer Teile
Wir beide sind so viel mehr als die Stunden, die wir teilen,
Wir beide sind so viel merkwürdig eigentlich, dass ich das jetzt erst geblickt hab
Es geht um den Inhalt, viel mehr als um die Form,
Es geht um deinen und um meinen Einzelfall viel mehr als um die Norm, es geht nicht um Physik, sondern um Phantasie,
Und vor allem geht’s ums Was, viel mehr als um das Wie."

Ich glaube, ich habe mir das Video heute locker zehn Mal angeschaut. Es bewegt etwas in mir, etwas in mir geht in Resonanz. Mittlerweile weiß ich, dass Julia mit ihrem poetischen Weckruf ein Medienstar geworden ist - von Null auf Hundert. Irgendwie ging das an mir vorbei. Und heute habe ich sie entdeckt - in dieser für mich besonderen und herausfordernden Zeit. Umso mehr ich mir ihren Text anhöre, umso mehr entdecke ich Parallelen zu dem, was ich hier über unsere Generation geschrieben habe. "»Die Stimme einer ganzen Generation.« (radiobremen.de); »Sie trifft den Nerv der Zeit, mitten ins Herz.« (3sat Kulturzeit).

Sie spricht mich an. Sie spricht dich an. Sie spricht uns an. Sie spricht eine Zeit an. Lasst uns leben, lasst uns freuen, lasst uns lachen, lasst uns einzigartig sein, lasst uns mutig sein, lasst uns verzeihen. Lasst uns lieben.

  "Und vor allem geht’s ums Was, viel mehr als um das Wie."




Mittwoch, 25. Juni 2014

Als ich mich selbst zu lieben begann...


habe ich verstanden, dass ich immer und bei jeder Gelegenheit,
zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin
und dass alles, was geschieht, richtig ist – von da an konnte ich ruhig sein.
Heute weiß ich: Das nennt man SELBST-BEWUSST-SEIN.



Als ich mich selbst zu lieben begann,
konnte ich erkennen, dass emotionaler Schmerz und Leid
nur Warnungen für mich sind, gegen meine eigene Wahrheit zu leben.
Heute weiß ich: Das nennt man AUTHENTISCH SEIN.



Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich verstanden, wie sehr es jemand beleidigen kann,
wenn ich versuche, diesem Menschen meine Wünsche aufzudrücken,
obwohl ich wusste, dass die Zeit nicht reif war und der Mensch nicht bereit,
und auch wenn ich selbst dieser Mensch war.
Heute weiß ich: Das nennt man RESPEKT



Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich aufgehört, mich nach einem anderen Leben zu sehnen
und konnte sehen, dass alles um mich herum eine Einladung zum Wachsen war.
Heute weiß ich, das nennt man REIFE.


Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich aufgehört, mich meiner freien Zeit zu berauben,
und ich habe aufgehört, weiter grandiose Projekte für die Zukunft zu entwerfen.
Heute mache ich nur das, was mir Freude und Glück bringt,
was ich liebe und was mein Herz zum Lachen bringt,
auf meine eigene Art und Weise und in meinem eigenen Rhythmus.
Heute weiß ich, das nennt man EINFACHHEIT.



Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich mich von allem befreit, was nicht gesund für mich war,
von Speisen, Menschen, Dingen, Situationen
und von Allem, das mich immer wieder hinunterzog, weg von mir selbst.
Anfangs nannte ich das „Gesunden Egoismus“,
aber heute weiß ich, das ist SELBSTLIEBE.



Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich aufgehört, immer recht haben zu wollen, so habe ich mich weniger geirrt.
Heute habe ich erkannt: das nennt man BESCHEIDENHEIT.



Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich mich geweigert, weiter in der Vergangenheit zu leben
und mich um meine Zukunft zu sorgen.
Jetzt lebe ich nur noch in diesem Augenblick, wo ALLES stattfindet,
so lebe ich heute jeden Tag, Tag für Tag, und nenne es BEWUSSTHEIT.



Als ich mich zu lieben begann,
da erkannte ich, dass mich mein Denken behindern und krank machen kann. Als ich mich
jedoch mit meinem Herzen verband, bekam der Verstand einen wertvollen Verbündeten.
Diese Verbindung nenne ich heute HERZENSWEISHEIT.




Wir brauchen uns nicht weiter vor Auseinandersetzungen,
Konflikten und Problemen mit uns selbst und anderen fürchten,
denn sogar Sterne knallen manchmal aufeinander und es entstehen neue Welten.
Heute weiß ich: DAS IST DAS LEBEN !



Charlie Chaplin an seinem 70. Geburtstag am 16. April 1959

Dienstag, 11. Februar 2014

Eine Theorie von Allem Teil 5

5. Vier Sichtweisen auf die Wirklichkeit

Nachdem ich in den letzten Beiträgen eher emotionale Themen verarbeitet habe, möchte ich heute zu mehr sachlichen Themen zurückkehren und die „Theorie von Allem“ - Serie wieder aufgreifen. Im vierten und bisher letzten Teil ging ich der Frage nach, ob sich die „grüne“ Occupybewegung weiterentwickeln kann und damit einhergehend, welche Faktoren notwendig sind, um eine persönliche sowie kollektive Weiterentwicklung voran zu treiben. Im Schlussteil streifte ich den von Ken Wilber geprägten Begriff der „Generation X“, eine kulturelle Entwicklungsebene, welche gerade am Entstehen ist, und daraus hervorgehend, dass Warten auf die neuen globalen (integralen) Gründerväter der Zukunft.

In den bisherigen vier Teilen konzentrierte ich mich auf die Spirale der Entwicklung und den darin enthaltenen unterschiedlichen Bewusstseinebenen. Eine der tragenden Säulen der Integralen Theorie, aber bei weitem nicht die Einzige. Da wir in einer zunehmend komplexer werdenden Welt leben, muss per Definition eine „Landkarte“, die den Anspruch hat, diese Welt so vollständig wie möglich abzubilden, genauso umfangreich und komplex sein. Heute möchte ich eine weitere tragende Säule der Integralen Theorie einführen:

Die vier Quadranten.


Die ewige Philosophie

Die vier Quadranten sind ein Modell des Autors und Philosophen Ken Wilber. Sie stellen eine Verbindung zweier elementarer Unterscheidung der manifesten Wirklichkeit dar. Diese Grundunterscheidungen sind:

a) innerlich/äußerlich und
b) individuell/kollektiv

( integralesleben.org )

Als erstes erkennen wir hieraus, dass, wenn wir uns der manifesten Wirklichkeit annähern wollen, es grundsätzlich auf zwei Wegen möglich ist: innen/außen oder individuell/kollektiv. Eine erste und einfache Unterscheidungsmöglichkeit der relativen/dualen Wirklichkeit.

Nach Ken Wilber existiert kein Innerliches ohne ein Äußerliches, kein Äußerliches ohne ein Innerliches, kein Singular ohne ein Plural und kein Plural ohne ein Singular, und zwar seit Beginn aller Manifestation (Urknall)."

( integralesleben.org )


"Seit Beginn aller Manifestation.“ Hier ist es sehr wichtig, genau hinzuschauen. Jahrelang hat es mir das Gehirn zermartert, wie es zusammenpassen kann, dass alle großen Weisheitstraditionen der Welt, vom Christentum über den Buddhismus zum Daoismus, von einer „Ewigen Philosophie“ (Philosophia perennis) sprechen, von einem Urgrund aller Dinge, irgendeiner Form von absoluter Gottheit, aus der alle manifestierten Dinge entstehen. Eben alles, was wir sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken können - angefangen von einer Blume im Frühjahr, einer duftenden Reisschüssel bis zum Gefühl der Liebe. Diese „Gottheit“ (oder Tao, Absolutes, Leere) ist nicht ein von allen endlichen Dingen getrenntes Großes Ding, sondern eher die Realität, das Sosein oder der Urgrund aller Dinge. Des weiteren sagen diese Traditionen, darf man sich diese Gottheit nicht als kolossales Wesen, als liebenden Vater oder einen außerhalb der Schöpfung stehenden großen Schöpfer vorstellen, sondern als die „Natur aller Naturen“, nicht etwas von allen Dingen und Ereignissen Getrenntes, eher als etwas Absolutes, welches gewissermaßen das Gewebe von allem ist, was ist.

 
Wenn wir dem folgen, bedeutet dies, dass auch der Mensch aus diesem Absolutem entstanden ist. Aber wer oder was nimmt das alles wahr?

Es gibt keine Suche nach dem Selbst, es schaut durch Deine Augen, gerade jetzt.
Das Selbst kann nicht erreicht werden.
Du kannst ganz einfach und absolut nicht erlangen, was Du nie verloren hast."

(Ken Wilber)

Diese Erkenntnis war für mich mein philosophisches Heureka. Auf einer absoluten Ebene gibt es ganz und gar nichts zu erreichen, weil es schon immer da war, langer vor meiner Geburt und lange danach. So als würden wir uns jahrelang fragen, worauf wir stehen und dann das erste Mal unsere Füße erblicken, die schon immer da waren. Mit zunehmenden Studium der Integralen Theorie setzte sich das Gedankenpuzzle immer weiter zusammen. Und zwar ganz einfach in der fundamentalen Erkenntnis: Es gibt zwei Wirklichkeiten. Und beide bedingen sich gegenseitig und beide sind gleich wichtig und gleich wahr. : Eine absolute Wirklichkeit und eine relative Wirklichkeit. Die absolute Wirklichkeit umfasst das „ICH BIN“, das Formlose, das Absolute, die Natur aller Naturen, das klare Bewusstsein. Aus dieser „Leere“ entstehen alle Dinge der relativen Wirklichkeit in unserem Bewusstsein. Hier gibt es kein gut oder schlecht, Angst oder Liebe, Schmerz oder Freude, Hunger oder Satt. Hier ist alles eins, hier ist nichts außerhalb der Berge, Flüsse und Wälder, sondern etwas, das durch die Fasern von allem und jedem fließt.

Aus diesem Urgrund entstehen alle Dinge der dualen Welt – unserer Welt. In dem Moment, wo sich unsere Seele entschieden hat, in einen Körper zu inkarnieren, betrat sie die Sphäre der stofflichen, materiellen und physischen Welt, mit all ihren Licht und Schattenseiten, mit all ihren Unterscheidungen und Dualismen, Entzückungen und Leiden. Aber das ICH BIN ist immer noch da, war immer da und wird es immer bleiben. Wie es im Diamant-Sutra steht: „Form ist Leerheit und Leerheit ist Form“. Wenn man diese beiden Wirklichkeiten als gleichwertige Dimensionen unseres Seins anerkennt, dann ergibt alles einen „Sinn“.
Die von Wilber entwickelten vier Quadranten helfen uns als Meta-Theorie, unsere immer komplexer werdende Welt, auf einer relativen Ebene so umfangreich und komplett wie möglich greifbar zu machen, indem nichts ausgegrenzt oder als falsch angesehen wird, sondern alles als Ausdruck des „Einen“ anerkannt wird und so seinen Platz in der natürlichen Ordnung der Dinge bekommt. Man kann die Integrale Theorie mit einer Alpenüberquerung vergleichen. Bevor man sich auf den Weg macht, versucht man die aktuellste und detailliertes Wanderkarte zu bekommen, weil man sich ansonsten schnell verlaufen kann. Möchte man sich durch unser immer komplexer werdendes Leben bewegen, und spürt den drängenden Wunsch dieses zu verstehen, sucht man nach einem praktischen Wegweiser, der dies alles umfasst. Die Integrale Theorie versucht diesem Anspruch gerecht zu werden.


Eine multiperspektivische Brille

Was genau beinhalten nun diese vier Quadranten? Nachdem Wilber nahezu alle Philosophien und Theorien aus Ost und West studiert hatte, trieb es ihn schier in den Wahnsinn, wie all diese Weisheiten zusammen passen sollten, ohne das die eine weniger wahr wäre als die andere - sind sie doch alle Ausdruck des „Einen“. In seiner Klause malte er eines Tages - während einer 3-jährigen Rückzugsphase - ein T-Kreuz auf ein leeres Blatt Papier. Zuvor hatte er auf unzähligen Klebezetteln all die Theorien, Systeme und Traditionen aus Ost und West zusammengetragen. Und versuchte sie zu unterscheiden und gleichzeitig zusammenzufassen. Irgendwann begann er die Zettel in die vier leeren Rechtecke zu kleben. Und plötzlich ergab alles einen Sinn und hatte seinen Platz. Wenn man die Unterscheidung der relativen Wirklichkeit in Innen/Außen und Individuell/Kollektiv als Differenzierung zulässt. Am Ende dieser Sisyphus Arbeit kamen vier unterschiedliche Perspektiven/Blickwinkel auf die Wirklichkeit heraus – die sich alle gegenseitig bedingen und ergänzen und nicht ausschließen. Dies ist elementar wichtig, ansonsten wäre es nur eine „Anhäufung“ von Theorien und Konzepten. Die vier Quadranten:

Die 4 Quadranten


Der obere linke Quadrant (O.L.) bezieht sich auf das Ich, auf alles subjektiv Erleb- und Erfühlbare, auf alles was sich im Inneren eines jeden Individuums abspielt (intentional). Man kann versuchen den Geschmack einer Erdbeere in all seinen Feinheiten einem anderem Menschen zu erklären, letztlich muss dieser selber in die Erdbeere beißen, um subjektiv den Geschmack einer Erdbeere zu erleben. Dieses innere Erleben von Zuständen, Gefühlen und Stimmungen ist einerseits unauflöslich vernetzt mit unserem physischem Gehirn, andererseits mit der jeweiligen Natur und Umgebung in der es lebt. Der Einzelne lebt nicht in einem luftleeren Raum. „Ein individuelles oder subjektives Bewußtsein existiert jedoch nicht in einem Vakuum; kein Subjekt ist eine Insel für sich. Das individuelle Bewußtsein ist unauflöslich vernetzt mit dem objektivem Organismus und Gehirn, mit der Natur, mit Gesellschaftssystemen und Umwelt und mit kulturellen Rahmenbedingungen, gemeinsamen Werten und Weltanschauungen.“ (Ganzheitlich handeln, S. 63)

Und damit berühren wir den oberen rechten Quadranten (O.R.). Hier ist das Es zu Hause - alles was man wiegen, messen und überprüfen kann. Alles was sich hier abspielt ist Verhaltensbezogen. Die empirische Wissenschaft mit all ihren Versuchsreihen und Forschungen hat hier ihren angestammten Platz (was man verifizieren und belegen kann). „ Der Oben-Rechts-Quadrant“ ist das Individuum aus objektiver, empirischer, „wissenschaftlicher“ Sicht. Das schließt insbesondere ein: organische Körperzustände, Biochemie, neurobiologische Faktoren, Neurotransmitter, organische Gehirnstrukturen (Gehirnstamm, limbisches System, Großhirnrinde) und so weiter. Wie immer wir die tatsächliche Beziehung zwischen Geist/Bewußtsein (Oben links) und Gehirn/Körper (Oben rechts) einschätzen, wir können zumindest darin übereinstimmen, dass sie eng miteinander verbunden sind“. (Ganzheitlich handeln, S. 63)

Damit haben wir die beiden individuellen/innerlichen Quadranten kurz umschrieben. Jetzt gelangen wir zum ersten kollektiven/äußeren Quadranten. Wie schon angedeutet, ist jedes Subjekt oder Ich in einen kulturellen Kontext eingebettet und lebt nicht in einem Vakuum. Sondern in einem Wir aus gemeinsamen Werten, Wahrnehmungen und Bedeutungen, eben einer Kultur, verbunden mit einer gemeinsamen Sprache. Somit gelangen wir zum ersten kollektiven Quadranten, dem unterem linkem Quadranten (U.L.) „Der Unten-Links-Quadrant beinhaltet diejenigen Muster im Bewusstsein, welche allen Menschen gemeinsam sind, die sich „in“ einer bestimmten Kultur oder Subkultur befinden. Damit Sie und ich uns überhaupt verstehen können, müssen wir zumindest eine gewisse linguistische Semantik gemeinsam haben sowie zahlreiche Wahrnehmungen, Weltanschauungen, die sich zu einem bestimmten Grad überlappen (damit Kommunikation überhaupt möglich ist), und so weiter. Diese gemeinsamen Werte, Wahrnehmungen, Bedeutungen, semantischen Standorte, kulturellen Praktiken, Ethiken und dergleichen bezeichne ich einfach als Kultur oder die intersubjektiven Muster im Bewusstsein.“ (Ganzheitlich handeln, S. 64)

All diese intersubjektiven gemeinsamen Wahrnehmungen, Werte, Traditionen und Anschauungen eines kulturellen Kontextes haben nichtsdestoweniger objektive (äußere) Entsprechungen. Wiederum existieren auch diese Anschauungen und Werte nicht in einem luftleeren Raum. Vielmehr treffen sie auf physische und techno-ökonomische Institutionen und Gesellschaftsformen. Beginnend in unserer Evolutionsgeschichte bei den Sammler- und Jäger Horden über die Agrarkultur, das Industriezeitalter bis zum heutigen Informationszeitalter. Mit diesen äußeren Korrelaten einer bestimmter kulturellen (intersubjektiven) Entwicklungsstufe berühren wir den Unteren rechten Quadranten (U.R.), dem Wir alle. „ Diese kulturellen Wahrnehmungen, die alle bis zu einem gewissen Grad in intersubjektiven Räumen im Bewusstsein vorhanden sind, haben nichtsdestoweniger objektive Korrelate, die empirisch entdeckt werden können – physische Strukturen und Institutionen einschließlich techno-ökonomischer Formen (Sammeln und Jagen, Gartenbau, Seefahrt, Landwirtschaft, Industrie, Information), Architekturstile, geopolitische Strukturen, Formen der Informationsübermittlung (vokale Zeichen, Ideogramme, Buchdruck, Telekommunikation, Mikrochips), gesellschaftliche Strukturen (Überlebenshorden, ethnische Stämme, Feudalordnungen, Nationen, körperschaftlich organisierte Staaten, Wertegemeinschaften und so weiter). Diese intersubjektiven Wirklichkeiten bezeichne ich im allgemeinen als das Gesellschaftssystem (Unten-Rechts-Quadrant). (Ganzheitlich handeln, S.64)

Wenn man einen Blick auf die relative Welt wirft, kann man sich die vier Quadranten wie eine multiperspektivische Brille mit vier Linsenprismen vorstellen. Man schaut quasi gleichzeitig durch vier Linsen. Lässt man drei Linsen weg und schaut beispielsweise nur durch die Linse des wissenschaftlichen Empirismus (O.R.), blendet man dadurch automatisch drei andere Sichtweisen (Quadranten) aus. Nun hat man die Brille des strengen empirischen Forschers auf, der nur das für wahr hält, was er durch seine Brille sieht. In der Integralen Theorie ist dazu der Begriff des (Quadranten) Reduktionismus geprägt worden. Der Vorteil einer integralen, vierprismigen Brille liegt auf der Hand. Man sieht dadurch alle vier Bereiche der relativen (dualen) Wirklichkeit. Sobald man eine Linse scharf stellt, blendet man dadurch notwendigerweise die drei anderen aus. Ein einfaches Beispiel soll diese multiperspektivische Sichtweise verdeutlichen.

Ein Gedanke

Einen Gedanken der mir kommt erlebe ich phänomenologisch (oberer linker Quadrant). Dieser Gedanke hat hirnphysiologische Entsprechungen (oberer rechter Quadrant). Der Gedanke entsteht vor dem Hintergrund meiner kulturellen Prägungen und Entwicklung und ist von diesen geformt (unterer linker Quadrant). Gleichzeitig ist dieser Gedanke auch geprägt und geformt von den sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen in denen ich lebe (unterer rechter Quadrant).

(integralesleben.org )

Die nachfolgenden Diagramme geben uns noch einmal einen groben Überblick über die vier Quadranten (Diagramm 1) sowie einige repräsentative Vertreter daraus (Diagramm 2). Man kann die vier Quadranten auch auf drei einfache „Nenner“ bringen bzw. zusammen, nämlich auf: ICH (O.L.) - WIR (U.L.) – ES/se( O.R./U.R.). Daher können die vier Quadranten zu den „Großen Drei“ vereinfacht werden (Ich, Wir und Es.) Diese wichtigen Dimensionen lassen sich auf viele unterschiedliche Weisen umschreiben: Kunst, Moral und Wissenschaft; das Schöne, das Gute und das Wahre; Selbst, Kultur und Natur.“ (Ganzheitlich handeln, S. 66)

Ich 

Wir

Es

Selbst Kultur Natur
Schönheit Gerechtigkeit Wahrheit
Ästhetik Moral Wissenschaft

Diagramm 1
( Integral-con-text.de )



ICH
WIR
ES
SIE (ES-se)
Freud Thomas Kuhn B.F. Skinner Systemtheorie
C.G. Jung Wilhelm Dilthey John Watson Talcott Parsons
Piaget Jean Gebser John Locke Auguste Comte
Aurobindo Max Weber Empirismus Karl Marx
Plotin Hans Georg Gadamer Behaviorismus Gerhard Lenski
Gautama Buddha

Physik, Biologie, Neurologie Ökologisches Gewebe des Lebens


Diagramm 2: Einige repräsentative Theoretiker in jedem Quadranten
(Ganzheitlich handeln, S. 65)

Zum Ende möchte ich Ken Wilber noch einmal zu Wort kommen lassen, um ein weiteres Mal zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, alle vier Quadranten (Linsen) gleichermaßen zu berücksichtigen, um einen umfassenden/vollständigen Blick auf die duale Wirklichkeit zu gewinnen:

„Es ist richtig, dass der obere linke Quadrant der Ort des Bewusstseins ist, wie es in einem Individuum erscheint, aber das ist ja der Punkt: wie es in einem Individuum erscheint. Und doch ist Bewusstsein als Ganzes verankert in und verteilt über alle Quadranten - intentional, verhaltensmässig, kulturell und sozial. "Löscht" man irgendeinen Quadranten aus, verschwinden alle anderen auch, weil jeder für die Existenz aller anderen unabdingbar ist.“

(integralesleben.org)