Sonntag, 27. Mai 2012

Eine Theorie von Allem Teil 1

1.  Die Wellen der Existenz



Vorbemerkung

"Integral -  dieses Wort bedeutet integrieren, zusammenführen, vereinigen, vernetzen, umfangen. Dabei geht es nicht um Uniformität und nicht um ein Ausbügeln all der wunderbaren Unterschiede, Farben und Zickzacklinien der regenbogenfarbenen Menschheit. Es geht vielmehr um eine Einheit in der Vielfalt, in der man Gemeinsamkeiten zusammen mit unseren wundervollen Unterschieden genießen kann."
- Aus Ganzheitlich handeln, Ken Wilber -

Heute möchte ich mit diesem Essay eine Einführung in den Integralen Ansatz nach Ken Wilber geben. Da dieser sehr komplex und umfangreich ist, nehme ich mir für mein Thema, das ich hier aufzeigen will, nur den Aspekt der Bewußtseinsstufen aus diesem Ansatz heraus. Des weiteren kann man bei solch einer ersten Einführung sehr schnell mehr Verwirrung als Aufklärung stiften. Ich werde  mich nach besten Kräften bemühen, dies zu vermeiden.
Die Integrale Theorie basiert im wesentlichen auf dem Philosophen und Denker Ken Wilber. Von einigen  Kommentatoren wird er, ohne mit der Wimper zu zucken, der "Einstein der Bewußtseinsforschung" genannt. Er gehört zweifellos zu den größten Denkern des 21. Jahrhundert. Vor gut 4 Monaten, während meines Winteraufenthaltes in Griechenland, bin ich auf die Theorie und die Werke von Wilber aufmerksam geworden. In den Jahren zuvor hatte ich den Namen schon einmal gehört, ihm aber nie nähere Beachtung geschenkt. Im Gegenteil, das Wenige, was ich von ihm wusste, tat ich als eine weitere "ach so schlaue Theorie" von einem weiterem "Ach so Oberschlauen" ab!  Nach der Lektüre der ersten Bücher und den zahlreichen Gesprächen mit einem ausgesprochenen Kenner und Experten seiner Werke, hat sich meine Einstellung dazu radikal verändert. Noch nie zuvor hat eine Theorie bei mir in so kurzer Zeit so hohe Wellen geschlagen. Schnell konnte ich  erkennen, dass diese "Theorie von Allem", all jenes verbindet, mit dem ich mich in den letzten Jahren so intensiv beschäftigt hatte; von Freud bis Nietzsche; von der Chaostheorie bis zum Zen-Buddhismus.

 Die Integrale Theorie nach Ken Wilber versucht eine umfassende Sicht des Menschen und der Welt zu entwickeln. Dabei versucht sie, prämoderne, moderne und postmoderne, östliche und westliche Weltsichten sowie spirituelle Einsichten und wissenschaftliches Denken zu integrieren. Ein gewagtes Unterfangen und ob ihm das gelingt, vermag jeder selbst zu beurteilen, nachdem er sich näher mit seinen Werken beschäftigt hat.

 Ich möchte hier keinen "Personenkult" betreiben oder den guten Herrn Wilber auf einen Thron setzen. Nach allem was ich gelesen habe, ist ihm das selbst zuwider und auch ein wenig unangenehm. Nach der Veröffentlichung seines ersten Buches, mit gerade einmal 23 Jahren, wurde er von vielen Experten in dem siebten Himmel gelobt. Nachdem er ein Jahr diesen Ruhm ausgekostet hatte, entschied er sich, sich weitesgehend aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Ganz einfach deswegen, um nicht weiterhin auf irgendwelchen Bühnen von Kongressen oder Lesungen zu stehen, sondern sich seiner wahren Passion zu widmen: dem unermüdlichen Forschen nach der Wahrheit. Seitdem lebt ein bescheidenes und zurückgezogenes Autorenleben in den USA. In einem seiner Bücher erwähnte er einmal die Bürde, die mit dem Erkennen der Wahrheit verbunden ist: „Wem es erlaubt ist zu sehen, der trägt gleichzeitig als Verpflichtung auch die Bürde, das von ihm Gesehene in eindeutigen Worten mitzuteilen, so lautet die Absprache. Dir wird der Einblick in die Wahrheit unter der Bedingung gewährt, sie an andere weiterzugeben."


Mit diesem Essay möchte ich versuchen einige scheinbare Widersprüche in vielen derzeitigen Diskursen aufzulösen. Insbesondere was aktuelle politische und gesellschaftliche Themen angeht, wie zum Beispiel die Occupy-Bewegung oder die Europäische Schuldenkrise. Diese Themen sind eng verwoben mit meiner eigenen Suche nach Wahrheit und Tiefgründigkeit und beschäftigen mich daher schon einige Zeit. Mir schwannt jetzt schon, dies wird kein leichtes Unterfangen. Das Ganze möchte ich auf die Erkenntnisse der Integralen Theorie stützen, verbunden mit  eigenen Erfahrungen, Beobachtungen und Erkenntnissen der letzten Jahre, insbesondere den letzten sechs Monaten und dem damit verbundenen Aufenthalt im Occupy-Camp Frankfurt.


Also, gehen wir es an!


Die bemerkenswerte Spirale

Um ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, warum immer wieder auf kultureller wie individueller Ebene Interessengruppen aufeinander prallen, und nur gegenseitiges Unverständnis füreinander empfinden, ist es hilfreich, einen Blick in die Wissenschaft der Entwicklungspsychologie zu werfen.

"Entwicklungspsychologie ist das Stadium des Wachsens und der Entwicklung des Geistes - das Stadium innerer Entwicklung und der Bewußtseinsevolution. Also lassen Sie uns fragen: Kann die Entwicklungspsychologie Licht auf dieses Problem werfen?"
- Aus Ganzheitlich handeln, Ken Wilber -

In diesem Feld der Forschung tummeln sich einige renommierte Namen von Forschern und Persönlichkeiten, wie  Abraham Maslow, Jürgen Habermas oder Clare Graves. Unter diesen Forschern gab  es natürlich Dutzende von Meinungsverschiedenheiten und widersprüchlichen Ansichten. Aber in gewissen Grundzügen waren sich diese Forscher einig und sprachen von dem Wachstum und der Entwicklung des Geistes als eine Aufeinanderfolge sich entfaltender Stufen oder Wellen ( Ganzheitlich handeln S17)

Der letztgenannte Forscher, Clare Graves, entwickelte ein Entwicklungsmodell des Bewußtseins, welches nicht linear von unten nach oben verläuft, wie eine Leiter, sondern spiralförmig ineinanderfließend und überlappend, wie eine Meeresmuschel. Deshalb bekam es den Namen "Spiral Dynamics". Es beruht auf einer breiten empirischen Basis und wurde von der nachfolgenden Forschung bestätigt und verfeinert, jedoch nicht entkräftet. Zum besseren Verständnis wurden die Einzelnen, nach oben hin breiter werdenen Ebenen mit Farben belegt.


 

Abb. 1: Spiral Dynamics nach Don Beck und Christopher Cowan


 
Angestossen durch die intensive Pionierarbeit von Clare Graves wurden die "Spiral-Dynamiken" von seinen Schülern Don Beck und Christopher Cowan weiter verfeinert und stellen sich heute so wie oben angezeigt da. Die Spiral Dynamics sind ein wesentlicher Bestandteil der Integralen Theorie von Ken Wilber, auch wenn sie zwischenzeitlich von ihm erweitert und verfeinert wurden und der Schwerpunkt auf einem noch komplexeren und umfangreicheren Modell liegt. Aber für die Herangehensweise und die Aufgabe in diesem Essay sind sie nachwievor als grundsätzliche Einführung in die Entwicklungsstufen des Bewußtseins sehr hilfreich und passend.

Worum geht es nun bei dieser spiralförmigen Entwicklung des Bewusstseins? Es geht zunächst einmal darum, dass wir aufgrund des schlagenden Beweismaterials aus jahrzehntelangen Studien anerkennen sollten, dass wir als menschliche Individuen alle diese bewußtseinsmäßige Entwicklung durchlaufen. Ausnahmslos, egal ob Chinese, Amerikaner oder Europäer. Wir fangen als Säugling an und befinden uns auf der ersten Stufe der Spirale: Beige. Diese ist gekennzeichnet durch Instinkte und Gewohnheiten. Es ist die Ebene grundlegenden Überlebens; Nahrung, Wasser, Wärme, Zugehörigkeit, Sex und Sicherheit haben Vorrang. (Ganzheitlich handeln S22). Und um gleich anfängliche Verwirrung auszuschliessen: diese Entwicklungsstufen gelten individuell wie kulturell. Deshalb ist zum Beispiel die erste Stufe, sowohl bei Neugeborenen anzutreffen - Nahrung, Wärme, Zugehörigkeit -, sowie bei Alzheimerpatienten im letzten Stadium oder hungernden Massen (die sich in gewissem Sinne in einer Regression befinden und die Spirale quasi rückwarts durchlaufen - zurück zu den ursprünglichen Sinnen und Instinkten).

Von dieser ersten Stufe aus entwickeln sich Individuen und Kulturen weiter voran, von der instinktiven zu der magisch-animistischen Ebene (Purpur: "Ahnengeister/Voodo-Zauber"), weiter zu der egozentrisch- impulsiv gesteuerten Ebene (Rot: Mächtige Götter/"Kinder im Trotzalter, Feudalreiche"), zu der zielbewusst-/autoritären Ebene (Blau: "Macht der Wahrheit/religiöser Fundamentalismus"), zu der erfolgreich-strategischen Ebene (Orange: "Streben und Trachten/Materieller Gewinn/Investementbanker") und schließlich zu der gemeinschaftlich-egalitären Ebene (Grün: "Menschliche Verbindungen/Gemeinschaftsgefühl/ Das fühlende Ich/ Greenpeace"). Hier geschieht nun ein vorläufiger Abschluss der Entwicklung und deshalb werden diese ersten sechs Ebenen, auch "Ebenen der Grundexistenz" genannt. Danach vollzieht sich ein gewaltiger Sprung der Bewußtseinsentwicklung, "eine evolutionäre Verschiebung im Bewußtsein". Bisher wurden erst zwei dieser größeren "Seinsebenen" erforscht, Gelb und Türkis, und die letzte Ebene, die Integrale, taucht erst langsam am Horizont auf. In diesem Essay möchte ich mich aber hauptsächlich auf die ersten sechs Ebenen (bis Grün) berufen, da diese weltweit am meisten verbreitet sind. Laut Ken Wilber (Ganzheitlich Handeln, S 21ff) befinden sich ca. 90% der Weltbevölkerung auf den Ebenen Rot, Blau und Orange, 10% auf Grün. 1% auf Gelb und 0,1% auf Türkis.

In diesem Zusammenhang ist es weiterhin wichtig zu verstehen, dass diese Spirale in jedem von uns ist. Dies hatte ich weiter oben schon erwähnt, und ich werde nicht müde, es immer wieder zu tun, ganz einfach deswegen, weil es zum grundlegenden Verständnis dieser Theorie elementar wichtig ist - und für alle weiteren Ausführungen.  Dazu sagt Ken Wilber:" Darüber hinaus wurde durch viele weitere Forschungen bestätigt, dass jedes einzelne Individuum alle diese Meme (Ebenen) potentiell zu seiner Verfügung hat. Und deshalb werden die Linien gesellschaftlicher Spannung völlig neu gezeichnet: Sie beruhen nicht auf Hautfarbe, wirtschaftlicher Klasse oder politischer Zugehörigkeit, sondern auf dem Typ von Mem (Ebene), von dem aus eine Person tätig ist. In einer besonderen Situation ist es nicht mehr "Schwarz gegen Weiß", sondern vielleicht Blau gegen Purpur, Orange gegen Grün und so weiter. Und während niemand die Hautfarbe wechseln kann, kann er doch sein Bewußtsein verändern.  Don Beck formuliert das so: " Die Betonung liegt nicht auf Typen von Menschen, sondern Typen in Menschen." (Ganzheitlich Handeln, S21)Das heißt nichts anderes, als das wir die Ebenen je nach unseren Kapazitäten leben, bewusst oder unbewusst, in Antwort auf entsprechende Lebensbedingungen. Wenn wir uns jetzt die oben dargestellte Grafik näher anschauen, werden wir aufgrund der farblichen Schattierungen schnell festellen, dass jede nächsthöhere Ebene die vorherige integriert, was bedeutet, sie integriert deren Fähigkeiten und Werte und bringt gleichzeitig auf der höheren Ebene völlig neue, eigene hervor.  Es ist mehr ein fließender, als linearer Prozess, gekennzeichnet durch Strömungen, Wirbeln und Wellenbewegungen. Jede neue Ebene hat ihr eigenes Set an Werten und Fähigkeiten, die es Menschen ermöglicht, in Ihrem jeweiligen Lebenskontext zu überleben.


Soweit, so gut. Fassen wir kurz zusammen: Unsere Entwicklung als Individuum und als Kollektiv verläuft  spiralförmig nach oben zu immer komplexeren Ebenen. Die unteren werden dabei nicht "ausgelöscht" oder vergessen, sondern deren Werte und Fähigkeiten in die nächst höheren mit übernommen (integriert). Diese Entwicklung ist kein Automatismus. Es kann auch zu einem Stillstand auf einer Ebene kommen oder gar zu einer Rückentwicklung (z.B. Alzheimer). Entscheidend für ein voranschreiten in der Entwicklungsspirale ist  unser kultureller Kontext ( der Eingeborene im Urwald wird, solange er in seiner Sippe lebt, niemals auf die Idee kommen, seine Nahrung anders zu beschaffen, als mit Pfeil und Bogen), sowie die Notwendigkeiten und Bedürfnisse (eventuell wird aber eines Tages sein Urwald abgeholzt und es besteht somit die Notwendigkeit sich andere Quellen der Nahrungsbeschaffung zu erschliessen - Ackerbau, Tauschhandel oder die Umsiedlung in eine Stadt. Er ist "gezwungen" sich weiterzuentwickeln, um zu überleben).


Nach diesem grundlegenden Verständnis von Entwicklungsebenen in einem Individuum - sowie in einem Kollektiv - sollten wir recht schnell erkennen können, dass bei vielen derzeitigen Problemen einfach unterschiedliche Entwicklungsebenen aufeinanderprallen, die voneinander nichts wissen, ja, sogar nichts voneinander wissen wollen. Jeder pocht auf sein Recht als alleiniger Inhaber der richtigen Weltanschauung. Von seiner Stufe aus bertrachtet ist dies auch völlig in Ordnung. Es fehlt einfach die Fähigkeit, in den ersten sechs Existenzebenen quasi über den Tellerrand nach unten oder oben zu schauen. Dies ist kein Vorwurf, sondern ein Akt der natürlichen evolutionären Bewußtseinsentwicklung. Es fehlt das grundlegende Verständnis für die Position (oder Ebene) des anderen. Erst ab der ersten "Seinsebene", der Gelben, wird dies möglich sein. Aber wie wir gesehen haben, sind wir davon weltweilt noch weit entfernt und der Großteil der Bevölkerung befindet sich noch auf den "niederen" Stufen Rot, Blau und Organge. Darum kann es nicht darum gehen, die "Speerspitze" der Entwicklung mit gerade mal 10% Bevölkerungsanteil voranzutreiben, sondern zur Gesundung der gesamten Spirale beizutragen, also ihr Fundament zu stärken, weil darauf alle höheren Stufen aufbauen und sie ansonsten in sich zusammenbrechen würde.  Als kurze Beispiele für diese Konflikte zwischen den einzelnen Ebenen seien hier genannt: die (Orange) "europäische Troika" gegen das (blaue) griechische Volk; die (grüne) Occupybewegung gegen die (orangen) gierigen Banker; der (blaue) puritanische Prediger gegen  den (grünen) transzendenten "Osho"-Anhänger; die (roten) Hells Angels Rocker gegen den (blauen) rechtschaffenden Staat. Auch hier ist es wichtig zu erwähnen, dass es in einer Troika, in einem griechischem Volk oder eine Protestbewegung unterschiedliche Ebenen der Entwicklung gibt. Die gesamte Farbpalette der Spiral Dynamics von Purpur bis Grün ist vertreten. Aber es gibt einen Bewußtseinsschwerpunkt auf einer Ebene, eine Durchschnittsmenge, wie z.B. Blau bei den Griechen, was aber nicht heißt, dass Rot, Orange oder  Grün (in Ansätzen) nicht vorhanden wären. Wir müssen aber bei unseren weiteren Betrachtungen von diesen Bewußtseinsschwerpunkten in Populationen und Bewegungen ausgehen, um ein besseres Verständnis für die aufzuzeigenden Problemfelder zu erlangen.


In diesem ersten Kapitel haben wir eine erste Ahnung davon bekommen, warum es für viele derzeitigen Probleme keine einfachen Lösungen und Parolen gibt, auch wenn man diese immer wieder aus Protestbewegungen und spirtuellen Kreisen hört. Mit Parolen wie, "Kapitalistenschweine", " blutsaugende Troika" oder "der weltweiten Verschwörung der Eliten" ist es einfach nicht getan. Es ist richtig, dass die Banken Milliarden verspekulieren und die Verluste dann durch steuerfinanzierte Rettungsschirme "sozialisieren". Und es ist auch richtig, und für die aufkommende Postmoderne wichtig, dagegen zu protestieren, sich zu empören und es einer breiten Masse und den Politikern mitzuteilen. Aber es ist eben nicht die "ganze" Wahrheit, sondern maximal die Halbe. Es macht einfach mehr Sinn alle Beweggründe mit einzubeziehen und dann auf Grundlage dessen, eine Lösung und einen Ausweg für diese Auswüchse der Moderne zu finden. Bisher hörte ich immer nur gegen was demonstriert wird, aber nicht für was.  Eine "Theorie von Allem" muss auch die Ansichten von allen berücksichtigen, auch wenn es aus dem gerade zu bekämpfenden oder verhaßten Lager kommt. Das Alte (vorherige) umschliessen, nicht zerstören, und dann etwas Neues entstehen lassen. Nur dann ist ein Lösungansatz möglich, der alle Ansichten miteinbezieht und somit zu einer tragfähigen Basis für die Entwicklung aller Bewußtseinsebenen beiträgt. Mit diesem "Rüstzeug" können wir nun versuchen, uns diesem "Clash der Titanen" weiter zu nähern, um der Frage nach einer Perspektive weiter auf den Grund zu gehen. Und um eventuell sogar am Ende einen breiten Lösungsansatz aufzuzeigen. Es wird eine Herkulesaufgabe werden, soviel ist klar.



Mittwoch, 23. Mai 2012

Das Interview

Liebe Freunde und Leser,

heute ist im Giessener Anzeiger ein letzter Zeitungsbericht zu der Way of Living Radtour erschienen. Diesmal ist es ein Interview zu der Radtour und meinem Reiseleben seit zwei Jahren. Der Redakteur schickte mir die sechs Fragen und ich beantwortete Sie ihm gerne und ausführlich. Ich glaube, dieses Interview ist ein passender Abschluss der Berichterstattung von dieser sechsmonatigen Radtour. Es gewährt einen Einblick in meine inneren Prozesse während der Tour und gibt einen Ausblick auf mein weiteres (Reise) Leben.

Interview Giessener Anzeiger

Wie ihr lesen könnt, arbeite ich momentan an meinen Aufzeichnungen von der Radtour. Diese setzen sich aus meinen Tagebuch- und Blogeinträgen zusammen, werden redigiert und ergänzt. Wenn alles so klappt wie ich es mir vorstellen, kommt am Ende ein fertiges Buch heraus. Die gesamte Tour und Ihre Erlebnisse kompakt zusammengefasst, ergänzt durch philosophische Einwürfe und persönliche Einsichten. Ob elektronisch oder gedruckt, das wird sich zeigen, je nachdem ob ich einen Verlag finde. Die ebook Variante ist derzeit am einfachsten umzusetzen. Dieses Projekt nimmt einige Zeit und Arbeit in Anspruch, insofern wird es noch einige Wochen dauern. Zudem stecke ich momentan in einem weiterem Umzug im Raum Erlangen. Nichtsdestotrotz, versuche ich in der verbleibenden Zeit den Blog mit weiteren Themen interessant und aktuell zu halten. Also, bleibt dran, es wird ein spannender Sommer.

Herzlichst
O.L.

Montag, 14. Mai 2012

Gesamtstatistik Way of Living Radtour

Hier nun die Gesamtstatistik der kompletten Radtour. Für alle Fans von Zahlen, Daten, Fakten.

Gesamt-Dauer: 81 Tage
Hinfahrt Frankfurt - Korfu: 59 Tage
Rückfahrt Venedig - Frankfurt: 22 Tage

Gesamt-Km: 4.419 (ohne die Fahrten in GR)
Hinfahrt: 3.114 km
Rückfahrt: 1.305 km

Durchschnitt. - Tages-KM: 58,14

Längste Etappe: 130, 25 km (Ingolstadt - Nürnberg)
Kürzeste Etappe: 12,9 km (Bibinje - Jakov)/Kroatien

Hinfahrt
  • Deutschland 
  • 14 Tage
  • 792 Km          

  • Österreich
  • 10 Tage
  • 602 Km

  • Slowenien
  • 4 Tage
  • 200 Km

  • Kroatien
  • 17 Tage
  • 849 Km

  • Montenegro
  • 4 Tage
  • 185 Km

  • Albanien
  • 9 Tage
  • 485 Km

Rückfahrt

  • Italien
  • 6 Tage
  • 375 km

  • Österreich
  • 3 Tage
  • 208 km

  • Deutschland
  • 14 Tage
  • 721 km


Höhenprofile 

Bozen - Brennerpass Wiesing - Achensee

Dienstag, 8. Mai 2012

Neuer Zeitungsartikel und Emailnewsletter

Liebe Freunde und Leser,

die Regionalzeitung Giessener Allgemeine nahm während meiner Zeit in Griechenland Kontakt mit mir auf, und bekundete nach meiner Rückkehr Interesse an einer Reportage über meine Radtour. Nach einem über zweistündigen Gespräch, ist der nachfolgende Artikel herausgekommen, der in sehr persönlicher, fast schon poetischer Weise, nicht nur von der Tour berichtet, sondern auch über die Beweggründe für meinen Aufbruch vor über zwei Jahren.

 Giessener Allgemeine 05.05.12

Desweiteren möchte ich euch die beiden Möglichkeiten ans Herz legen, immer auf den neuesten Stand zu bleiben.  Zum einen gibt es einen emailsnewsletter und zum anderen die Möglichkeit den Blog zu abonnieren (RSS-Feed). Beides findet ihr auf der linken Seite ganz unten. In nächster Zeit wird sich hier auf dem Blog einiges tun. Neue Projekte, neue Ideen.

Herzlichst
euer
O.L.

Montag, 7. Mai 2012

Eine Nacht bei Occupy


Diese Gruppe von jungen Menschen, haben sich letztes Jahr zusammen getan, haben zuerst nur demonstriert und dann besetzt "occupiert", nach dem Vorbild aus den USA. Was in Amerika, New York mit seiner Wall Street ist, ist in Deutschland, Frankfurt mit seiner Wertpapierbörse. Nicht weit davon entfernt steht der Wolkenkratzer der Europäischen Zentralbank und davor gibt es eine Grünanlage. Und dort haben sie sich dann hingesetzt und sind geblieben, seit letztem Herbst. Und über den Winter, bei minus 15° Grad. Und vor dieser kleinen Zeltstadt stehe ich nun, dem "Occupycamp Frankfurt". Als ich über die Mainbrücke in die Innenstadt fuhr, wollte ich eigentlich erst zur Börse und dann zum Camp, aber dieses war näher und schneller zu finden. Nun war ich also da. Die Occupy-Bewegung stand vor mir, in Form einer Zeltstadt. Erst im Dezember letztes Jahres habe ich angefangen, mich näher mit dieser Protestbewegung zu beschäftigen. Und fand schnell heraus, dass es viele  gemeinsame Schnittmengen mit den Motiven für meine Griechenlandtour gab. Da ich ja sowieso nach Frankfurt zurückwollte, lag es nahe, die Chance zu ergreifen, um mir ein eigenes Bild von den Menschen und Motiven dieser Bewegung zu machen.

Ich stand am Eingang des Camps. In der Mitte verlief ein Pflasterweg, links und rechts waren die Grünflächen. Links von mir erspähte ich den Infostand, gegenüber stand das grosse Eurosymbol vor der EZB. Überall hingen Transparente und Plakate. Ich stellte mein Fahhrad ab und musste das zuerst mal auf mich wirken lassen. Viele Eindrücke gleichzeitig prasselten auf mich ein. Ich vernahm eine Mischung aus Spannung und innerer Erregung. Das Camp ist das grösste in Deutschland. Die Medien berichteten in breiter Front darüber, auch außerhalbs Deutschlands. Ich schnappte meine Digitalkamera und begab mich auf Spurensuche. Langsam ging ich an den einzelnen Zelten vorbei. An einer Leine gespannt, hängen Zitate und Parolen. Mit ganz unterschiedlichen Aussagen. Auch aus der Literatur, ein Zitat aus "Wilhelm Tell" springt mir ins Auge.

Einige Meter weiter sehe ich eine Gruppe von Leuten auf Stühlen im Kreise sitzen. Später erfahre ich, dass dies eine "Asamblea " war,  das spanische Wort für "Versammlung", und eines der wichtigsten Entscheidungsgremien der Bewegung. Ein buntes Bild von Menschen und Gesichtern bot sich mir. Rechts vor einem Zelt sitzt eine Gruppe von jungen Männern, die man eindeutig als "Punker" identifizieren kann. Weiter vorne junge Kerle mit langen Haaren, Rastazöpfen, Menschen mit Migrationshintergrund. Als ich auf dem Rückweg wieder an der Versammlung vorbei komme, höre ich eine lautstarke Diskussion. Ein stämmiger Typ mit dunklem Teint hat das Wort. Er scheint aufgebracht, brüllt einen Deutschen an: " Ihr seid alle Nazis". Aufgeheizte Stimmung. Ein junger Kerl mit langen Rastazöpfen hat das Wort. Ich erkenne ihn sofort wieder, aus einer ARD-Reportage die ich im Internet sah. Später rede ich mit ihm. Jan ist sein Name und gehört zu den Engagierteren, denen den es wirklich um was geht. " Hier geht es um was grösseres. Wir können es uns nicht mehr leisten, dass jeder seinen "Ego-Trip" hier durchzieht". Er wendet sich an den aufgebrachten Migranten. "Du hast so eine aggresive Art an dir. Du provozierst die Leute bis aufs Blut. Du hast deine Aggros nicht unter Kontrolle. Das können wir hier nicht mehr gebrauchen. Wer sich nicht an die Regeln hält muss gehen.Wir brauchen Leute die sich einsetzen wollen, die etwas bewegen wollen. Es geht ums Ganze, um 7 Milliarden Menschen." Jan erhält großen Applaus, der sich bei dieser Art der Versammlung mit winkenden rechten Händen kundtut.

Ich gehe weiter. Schaue in die Zelte. Sehe viel Unrat rumliegen. Ich bin hin- und her gerissen. Soll ich hier wirklich eine Nacht bleiben? Das alles schaut mir wie ein Sammelbecken von gescheiterten Existenzen und Anarchisten aus. Nieder mit dem System, auch mit Gewalt! Nicht mein Ding. Gewaltfreiheit ist die oberste Maxime. Offensichtlich herrscht ein aggresiver Ton untereinander, der sich zum Teil auch in Handgreiflichkeiten entlädt. Ist dies die Bewegung unseres Jahrzehnts, der aufkommenden Postmoderne, die der Moderne und dem Kapitalismus einen Spiegel vorhalten will: so gehts nicht mehr weiter?! Mein erstes Gefühl ist kein gutes und meist kann ich mich darauf verlassen. Aber ich komme auch gerade von einer sechsmonatigen Radtour zurück, war langem im Ausland. Ich muss mich zuerst mal wieder akklimatisieren, allgemein an Deutschland und nicht nur an dieses Camp. Also beschliesse ich zu bleiben. Ich gehe zum Infostand und stelle mich vor.

 Wenige Minuten später kommt Thomas an den Stand. Wir kennen uns, zumindest per email. Mit ihm hatte ich von Griechenland aus Kontakt aufgenommen. Ihn würde ich auch als eine der tragenden Säulen bezeichnen. Auch wenn das innerhalb der Bewegung vielleicht keiner hören will. Er war lange für das Infotelefon, und somit, für die Aussendarstellung verantwortlich. Er weiss gleich Bescheid und begrüsst mich. Ich bekomme gezeigt wo ich mein Zelt aufstellen kann. Danach gehe ich mit Thomas in die gegenüberliegende Opernkantnine. Das Schauspielhaus unterstützt die Bewegung, stellt den Zugang zu der Kantnie und zu sanitären Anlagen zur Verfügung. Er erklärt mir auch wo ich duschen kann. Nach drei Tagen wäre es mal wieder dringend nötig. Dafür nehme ich auch die Bedingungen für diese Möglichkeit des Duschens in Kauf. Vieles läuft hier auf Improvisation und Unterstützung von anderen Organisationen hinaus. So kommt auch die Caritas ins Spiel. Dieses betreibt zwei Strassen weiter eine Tageseinrichtung für Obdachlose. Und stellt sie dem Camp mit zur Verfügung. Somit stehe ich das erste Mal in meinem Leben in einer Obdachlosendusche. Ein Erlebnis, das ich nur einmal brauche. In Bangkok ging ich einmal am Hauptbahnhof in eine öffentliche Dusche. Auch aus der Not der Dringlichkeit geboren. Ich sass 14 Stunden im Zug und in der Nacht ging mein Flug zurück nach Deutschland. Dort gab es noch abschliessbare Kabinen. Hier nicht. Hier gibt es drei offene. Es war nicht viel los. Gott sei Dank. In 20 Minuten war ich wieder draussen. Wenigstens ein Gefühl von oberflächlicher Sauberkeit. Ich fragte mich danach, wie das die Dauerbewohner im Camp handhaben? Später erfahre ich, das viele zu Freunden in umliegenden Häusern gehen. Ich kann es verstehen. Allein das wäre ein Grund für mich, nicht länger im Camp zu bleiben.

Während des Essens mit Thomas stelle ich viele Fragen. Bin natürlich neugierig, auf die Bewegung, die Menschen, die Absichten? Mir wird relativ schnell klar: Jeder macht hier sein Ding. Es ist ein Sammelbecken von Menschen aus allen Schichten und allen Weltanschauungen. Auch Thomas. Er meint lapidar zu mir: "Zuhause habe ich noch jede Menge Ideen in meiner Schublade liegen." Daraufhin drückt er mir zuerst mal seinen  selbst entworfenen Aufkleber in die Hand. Mit seiner Homepage. Und seinen Ideen darauf. Dagegen ist zunächst mal nichts einzuwenden. Mir kommen spontan die aufgeschnappten Worte von Jan aus der Versammlung ins Gedächtnis: "Wir können uns das nicht mehr leisten, müssen voran kommen." Das ist die große Frage: kommt man als Bewegung voran, wenn man alle Meinungen als gleichwertig ansieht, keine natürlichen Abstufungen anerkennt, weil dies gleich als Diskriminierung und Ausgrenzung aufgefasst wird und somit zuerst mal alles gelten lässt? Ich habe da meine Zweifel.

Nach dem Essen geht es zurück ins Camp. Thomas verabschiedet sich. Ich möchte versuchen noch ein paar Meinungen einzufangen, ein paar Aktivisten zu treffen "denen es wirklich um was geht". Denn es gibt auch andere. Die Parasiten, die Trittbrettfahrer. Der Ausdruck kommt nicht von mir. Den habe ich im IT-Zelt von Ottmar aufgeschnapt, seines Zeichen einer der Hauptverantwortlichen in diesem Bereich.  "Die fressen sich hier durch. Obdachlose. Abhängige. Denen geht es um nix, ausser einem Dach über den Kopf. Oder nur eine Zeltplane. Und zwei Mahlzeiten am Tag." Das Camp als Sozialstation. Auch ein Phänomen gegen das zuerst mal nichts spricht. Diese Leute werde sonst überall verachtet und ausgestossen. Hier zunächst mal nicht. Wenigstens eine Zeitlang. Das scheint sich jetzt langsam zu wandeln, so habe ich den Eindruck.

Ich stehe vorne am Eingang, unterhalte mich mit einer Frau aus dem "AK Flower Power". AK steht für Arbeitskreis, und davon gibt es hier einige. Das Camp soll eine grüne Lunge bekommen. Das Prinzip Selbstversorgung. Jan kommt hinzu. Er sprüht vor Energie, beim sprechen überschlagen sich fast seine Sätze. Wenn man ihn von aussen sieht, könnte er locker als "jointrauchender Yogalehrer" durchgehen. Wenn man ihn sprechen hört, als Investementbanker. Vorsicht Vorurteil! Er ist voll drin in der Materie: Hebel, ESM, Spekulationsblase, EZB. Er bereitet gerade einen Text vor, für die nächste Pressekonferenz mit dem Chef der EZB. Die Bewegung hat Kontakt und erhält Unterstützung von Journalisten, Professoren, Finanzexperten.  Ich bin beeindruckt, stelle ihm ein paar Fragen. Die drängendste: Was kommt nach dem großen Crash? Weil, der soll ja kommen, und wird von manchen sogar erhofft? Ich erfahre, das dies genau das perverse Spiel der Banken ist. Er wirft mit Fachausdrücken um sich. Alles verstehe ich nicht. Nur eines: Der Crash kommt nicht, da die Banken mit der derzeitigen Angst davor, immer mehr und immer weiter verdienen. Er verabschiedet sich Richtung Schauspielhaus. Der Text wartet. Die Kantnine hat bis 24 Uhr geöffnet.

Ich setze mich zum Infostand. Uwe und eine Holländerin sitzen hinter dem Tresen. Wenig später gesellt sich ein junger Biologiestudent in den Zwanzigern dazu. Auch einer der "Aktiven", wie ich schnell heraushöre. Plötzlich Aufruhr. Ein Typ in den Fünfzigern, mit Lederjacke, leichter Plautze und Frankfurter Dialekt vertreibt zwei fotografierende Japaner vom Eingang. Der junge Student schreitet sofort ein. "Lassen sich doch die Leute fotografieren." Dann wird es spannend. "Diese Scheiss Japse. Fotografieren jeden Mist. Ihr seid alle Abschaum." Das nenne ich eine Breitseite. Doch der Student ist redegewandt. Es kommt zu einer lautstarken Diskussion. " Wie lange soll das hier noch weiter gehen. Schau dir doch mal das Lager an. Hier müsste mal ein kleiner Hitler kommen, der würde hier aufräumen." Ein Altnazi! "Ah, jetzt haben wir einen Grund die Polizei zu rufen" entgegnet der clevere Student. Der Alte hat nun sein Pulver verschossen, versucht als letztes Mittel die persönliche Tour: " Geh was arbeiten. Wenn du mein Sohn wärest, dir würde ich die Ohren langziehen." Der junge Occupierer lässt sich nicht provozieren: " Ich gehe seit zehn Jahren arbeiten. Gott sei Dank sind Sie nicht mein Vater. Da kann ich ja heilfroh sei". Der Alte ist auf Rückzug, hat seinen aufgestauten Frust rausgelassen, sein Pulver verschossen.. Ich bin beeindruckt von dem jungen Aktivisten. Der aufgebrachte Frankfurter verzieht sich Richtung Bahnhofsviertel. Uwe geht ihm ein paar Schritte hinterher.  Zur Sicherheit, falls er beim Weggehen nicht doch noch ein Zelt in Brand steckt.

Es ist schon spät, für heute habe ich definitv genug erfahren vom Campleben. Ich verabschiede mich und ziehe mich in mein Zelt zurück. Wir befinden uns hier direkt in der Innenstadt. Um die Anlage herum verläuft eine Hauptverkehrsstrasse. Auf eine ruhige Nacht brauche ich mich also nicht einzustellen. Aber es kommt noch schlimmer. Der größte Lärm sollte die ganze Nacht nicht vom Verkehr kommen, sondern aus dem Camp. Bis 2 Uhr nachts liege ich wach. Irgendwelche emotional völlig Verhornten, denen die Nachtruhe ihrer Mitbewohner komplett am Arsch vorbei geht, trommeln bis in die frühen Morgenstunden. "Revolution"....bambamm "Revolution"...babambamm. Die immer gleichen Trommelschläge. Sie gehen mir ins Mark. Am liebsten würde ich ihm seine "Revolution Buschtrommel" über den Kopf ziehen. Aber ich bin ja nur Gast und morgen früh wieder weg. Zudem läuft bis weit nach Mitternacht die Musikanlage auf voller Lautstärke. Ich frage mich erneut, wie unter diesen Bedingungen, die "Engagierten" etwas auf die Beine stellen wollen. Mit akutem Schlafmangel lässt sich keine Revolution starten, die ist nur was für "Ausgeschlafene"!

Am nächsten Morgen sitze ich um 9 Uhr wieder auf dem Rad und begebe mich auf die letzten Kilometer dieser Tour in Richtung meines Heimatdorfes. Viele Bewohner habe ich zuvor nicht mehr angetroffen. Kein Wunder, bei dem Trommelfeuer bis in den Morgen. Jan treffe ich noch einmal kurz im IT-Zelt. Er arbeitet weiter an seinem Text vom Vorabend. Er meint es hätte ihn gefreut und ich könne ja einen Artikel von meinen Eindrücken in Griechenland für die Bewegung schreiben. Im Prinzip gibt es schon etwas in dieser Art, und zwar hier auf dem Blog. Aber mal schauen.  Ich verabschiede mich, wünsche weiterhin viel Erfolg und eventuell bis wieder einmal. Im Mai soll es wieder weltweit koordinierte Protestaktionen geben. Aber soweit denke ich noch nicht. Für mich heisst es zuerst mal richtig ankommen und einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.

Was die Occupybewegung betrifft muss ich zuerst mal die Eindrücke der letzten 24 Stunden verarbeiten. Ich habe gute Ansätze gesehen, aber auch viel Fanatismus und Narzissmus. Ganz klar, es ist eine Bewegung im Entstehungsprozess, und eventuell kam ich zu einer Zeit, in der eine neue Phase der Konsoldierung begann. Nach meinen ersten Eindrücken zu folge, wird es für die Zukunft der Bewegung entscheidend sein, aus der Sphäre der pluralistischen Werte, der oft mühseligen Meinungsvielfalt und des multikulturell, antihierarchisch, ausgeprägen Wertesystems, in eine Phase der natürlichen Abstufungen von Rangordnung und Leistung  zu gelangen (Wachstumshierarchien!). Und zwar, ohne gleich nach Ausgrenzung oder Unterdrückung von Minderheiten zu schreien. Wissen und Kompetenz sollten Vorrang haben vor Macht, Status oder Gruppenempfindlichkeiten. In jedem Fall eine Bewegung, bei der es sich lohnt, die weitere Entwicklung zu verfolgen und gegebenenfalls zum geeigneten Zeitpunkt mit einzusteigen.

Und bei mir? Wie geht es  nun weiter? Darauf eine Antwort zu geben, fällt mir momentan schwer. Deshalb lasse ich lieber einen der Grossen antworten, einem der immer wieder aufs neue versucht hat, seine eigene Seele und die seiner Mitmenschen zu ergründen, in all ihren Höhen, in all ihren Tiefen, und der mir mit seinen Büchern des öfteren aus der Selbigen gesprochen hat. Ich spreche von  Hermann Hesse. Zeit seines Lebens wurde er von seinen inneren Widersprüche getrieben, zuweilen auch geplagt. Eine innere Spannung, die in einem wunderbaren Satz für die Ewigkeit ihren Ausdruck findet: Die Sehnsucht nach Heimat und das Bedürfnis nach Aufbruch.








Sonntag, 6. Mai 2012

Ein Hauch von Abschied

Tag 22: Stockstadt - Frankfurt

Das grosse Finale!! Heute am Montag, den 02.04, werde ich in Frankfurt eintreffen. Von Aschaffenburg aus sind es noch gute 50 Kilometer bis dorthin. Das fahre ich auf der linken Pobacke ab! Also raus aus dem kalten Zelt, in windeseile alles zusammenräumen und ab aufs Rad. Mich betätigen, dann wird es mir auch schnell wärmer. Soviel sei schon mal verraten: der letzte Tag sollte noch ein paar Überraschungen bereithalten!

Die erste gleich in Seligenstadt. Wie als letzter Beweis für die so oft erlebte Grosszügigkeit und Menschlichkeit während der gesamten Tour. Ich hatte noch kein Frühstück im Magen. Meine Provianttasche war diesbezüglich schon ziemlich leer. Also entschloss ich mich, entgegen meiner Gewohnheit, aber zur Feier des letzten Tages, in ein Cafe zu gehen. Einen warmen Tee und ein Marmeladenbrötchen sollte man für 5 € bekommen. Ich fuhr in die Innenstadt und schaute nicht im feinsten Haus am Platze zu landen. So landete ich in einem gewöhnlichen Cafe, mit kaffetrinkenden und tratschtenden Rentnern. Hier war ich richtig. Ich bestellte einen schwarzen Tee, zwei hart gekochte Eier im Glas, dazu zwei Brötchen. Mein Sitzplatz war direkt vor der Küche in der Ecke. Die Bedienung, eine Dame um die 50 mit flottem Schritt und brauner Dauerwelle, war wohl auch gleichzeitig die Besitzerin, was ich an den Gesprächen mit den übrigen Gästen heraushören konnte. Sie hatte ein resolutes Auftreten, verbunden mit einem gewissem Humor und einer natürlichen Freundlichkeit.  Sie brachte mir die Eier im Glas, mit dem Hinweis, dass ich kontrollieren solle, ob sie auch wirklich hart gekocht seien, ansonsten würde Sie mir neue bringen. Sie waren es nicht, aber ich wollte sie so behalten. Als kleine Entschädigung brachte Sie mir ein weiteres Brötchen. Ich hatte mein Tagebuch und meine derzeitige Reiselektüre auf den Tisch gelegt.

 Irgendwann, nachdem Sie das fünfte mal an mir vorbeigegangen war, fragte Sie, woher ich komme. Ich erzählte ihr meine kleine Geschichte. Sie war beeindruckt und erzählte mir von einem Cousin, der für ein halbes Jahr nach Australien ging. Nachdem ich gestärkt war und meine Aufzeichnungen abgeschlossen hatte, gab ich Ihr ein Zeichen zum zahlen. "Ich muss los zur Schlussetappe nach Frankfurt" meinte ich mit einem breitem Lächeln. Grinsend stand Sie vor mir. In der Zwischenzeit hatten sich in der Ecke neben mir, zwei Damen gesetzt, die wohl bekannt waren mit der Betreiberin.  Sie drehte sich zu ihnen, und fing an " von dem jungen Mann " zu erzählen, der von Frankfurt nach Griechenland mit dem Rad gefahren ist." Plötzlich hörte das halbe Cafe zu, Köpfe drehten sich in meine Richtung. Mir war es  ein wenig unangenehm, so plötzlich im Rampenlicht zu stehen. Es kam mir beinahe so vor als wäre ich bei einem Vortrag! Nach Wochen mit mir und meinen Gedanken alleine, musste ich mich zuerst mal wieder ganz allgemein auf grössere Ansammlung von Menschen gewöhnen. Ich erzählte ein wenig von den Motiven und Hintergründen der Tour. Von den gesellschaftlichen Verhältnisse, von dem Getrieben sein in einer Leistungsgesellschaft.

Und dann passierte das letzte "kleine Wunder " dieser Radtour, insbesonderer dieser Rückreise, die davon ja nur so gespickt war. Ich machte anstalten gehen zu zahlen, und hielt Ihr einen 5€ Schein entgegen. Sie sah mich freundlich an und meinte: " Auf Ihrer heutigen Schlussetappe nach Frankfurt lade ich Sie zu diesem Frühstück ein!" Kawumh. Ich war baff. Ich bedankte mich herzlich, schrieb ihr beim rausgehen noch meine Blogadresse auf und ging aus dem Cafe.  Vor zwei Tagen der Mann von der Tafel, heute eine Cafebesitzerin. Ein leichtes Grinsen legte sich auf mein Gesicht. Ein Ausdruck von Vertrauen und Dankbarkeit. Ich wollte nicht lange darüber nachdenken, sondern mein Herz mit diesen Eindrücken füllen. Ich werde es brauchen würden, für die Tage und Wochen nach diesen Erlebnissen, als kleiner Schutzwall für all das Kommende, das nichts mit dem Erlebten der vergangenen Monate zu tun haben wird. Aus irgendeinem Grund wusste ich es heute schon!

Auf zu neuen Ufern

Weiter entlang des Mains. Während ich auf einer Bank sitze hält vor mir ein Radfahrer und spricht mich an. Nach einem kurzen Small-Talk fahren wir zusammen weiter. Während der Fahrt unterhalten wir uns. Ich bin neugierig, er ist ein Einheimischer. Zu dieser Zeit spielte ich noch mit dem Gedanken, nach Frankfurt um zu ziehen. Egal wohin, zuerst mal raus, wieder auf eigenen Beinen stehen. Raus aus der geistigen Enge. Raus aus oberflächlichen Getratsche und hinterlistigen Gehetze. Kurz: Raus aus diesem "Kaff". Vor 2 Jahren blieben nicht viel Alternativen, und für die Reisezeit war es ok. Die ist jetzt aber vorbei. Für die vorübergehende Bleibe bin ich dankbar, und das wars. Der Reiseautor und Schriftsteller Andreas Altmann würde sagen: " Raus diesem Scheissloch". Gerade schrieb er das Buch seines Lebens, wenn man so will, seine Biografie, für die er 20 Jahre Erfahrung als Reisender und Autor sammelten musste, um es nicht in einem "ambulanten Tränensackbericht "ausarten zu lassen, wie er es mal in einem Interview nannte. Das Buch ist eine gnadenlose Abrechnung mit der Scheinheiligkeit des Katholizismus, und dem Mief des provinziellen Kleinbürgertums. Und für mich ein Ansporn.

 Zurück zum Main. Ich frage meinen freundlichen Mitradler, der Ende der Fünziger ist und im vorzeitigen Ruhestand, wie es sich leben läßt, im Rhein-Main Gebiet, oder kleiner, im Umkreis von Frankfurt. Nein, wirklich positives kann er nicht berichten. Drei mal wurde ihm das Fahrrad geklaut, zweimal auf der Arbeit, am helligsten Tag. Natürlich war es immer abgeschlossen. Klar, das kann überall passieren, in jeder grösseren Stadt. Aber es gibt auch Statistiken und da steht Frankfurt nicht gut da, ein unrühmlicher erster Platz, bei  Einbrüchen und Diebstählen. Ich möchte wissen, wie er die Frankfurter, die breite Masse, so einschätzen würde? Ob die Klischees, nach denen die meisten "Stinkstiefel und Miesepeter" seien, aus seiner Beobachtung zutreffen? Ein leichtes Grinsen setzt sich auf sein Gesicht: "Naja, wirklich herzlich würde ich sie nicht bezeichnen." Zehn Kilometer vor Frankfurt verabschieden wir uns. Das Gesagte deckt sich mit meinen Eindrücken der letzten Jahre. Wie bei allen, man kann es nie pauschalisieren, aber es gibt eine breiten Durchschnitt, wie in allen Populationen. Und irgendwie spüre ich es auch. Nach den unterschiedlichen Regionen und Menschen der letzten Wochen, den herzlichen Italienern, den offenen Österreichern, den lebensfrohen Bayern,  folgen nun die mürrischen Hessen. Nicht alle, aber viele. Ich weiss ja wovon ich rede. Ich weiss, wie lange es gedauert hat bis ich "weltoffener" wurde. Dazu bedurfte es des Reisens in ganz andere Kulturkreise. Und eine natürliche Offenheit, diesen zu begegnen, mit Neugier, nicht mit Vorurteilen.

Ich setze mich auf eine Bank und schaue auf den Main. Nein, ich kann hier nicht länger leben! Zu sehr habe mich die Reisen und Erfahrungen der letzten Jahre geprägt, haben mich Offenheit, Toleranz, Fröhlichkeit und Miteinander gelehrt. Nach wenigen Wochen würde ich all das verlieren, würde mich wieder anpassen müssen, an das bestehende Umfeld. Würde quasi von ihm aufgesogen, ohne das ich was tun könnte. Ich weiss es, ich habe es immer wieder nach meiner Rückkehr erlebt.  Würde zu einem Jammer- und Keifsack verkommen, über alles und jeden hetzen und lamentieren. Lethargisch, kraftlos, freudlos. Depressiv ist nicht weit davon entfernt. Ich würde mein Innerstes verleugnen und vergewaltigen. Es liegt ein Hauch von Abschied in der Luft; Goodbye Hessen. Es war schön, aber nun wird es Zeit zu gehen.



Mit ein wenig gedrückter Stimmung fahre ich weiter. In den nächsten Wochen wartet einiges an Arbeit auf mich, an Organisatorischem. Ich wusste es schon in Griechenland, jetzt, wo es immer näher kommt, hat es nochmal eine andere Note. Fünf Kilometer weiter sehe ich die ersten Umrisse der Frankfurter Skyline, "Mainhatten", wie sie auch genannt wird, die Stadt der Banken, der Schauplatz von hemmungslosen Spekulationen ohne jegliche Substanz, dem grössten Irrsinn unserer Zeit. Und darum möchte ich Menschen treffen, die diesen Irrsin genauso verabscheuen, wie ich. Und nicht länger tatenlos zuschauen wollen. Auf zum Occupy-Camp..



Freitag, 4. Mai 2012

Von der Leichtigkeit des Reisens

Tag 19: Bamberg - Würzburg

Schon nach den ersten Kilometern empfängt mich an diesem Morgen ein weiteres mal mein liebster Freund beim Rad fahren: der Gegenwind. Diesmal war er so freundlich und wehte sogar noch etwas stärker als gestern. Zermürbend. Ich bin kein erklärter Bergfahrer, aber anstelle eines heftigen Winds von vorne, ziehe ich jede Steigung vor. Erklärtes Tagesziel für heute: Würzburg. Dort wartet der letzte "Warmshowers-Kontakt" der Rückfahrt auf mich, mit dem ich gestern Kontakt aufgenommen hatte. Mal wieder kurzfristig, mal wieder per Sms und mal wieder klappte es. Glück muss man haben. Oder einfach nur Vertrauen?

 Aljoscha, so heisst der freundliche Zeitgenosse, der mir nach 107 kräftezerrenden Kilometern im Wind die Tür öffnet. 30 Jahre jung und Jurastudent im fortgeschrittenem Semester. Er lebt mit seiner französischem Freundin in einem 5-stöckigem Haus unter dem Dach in einer grossen Wohnung. Das Haus gehört der Großmutter und somit fällt keine Miete an. Auch ein Weg Geld zu sparen! Seine Freundin ist heute nicht da, und so kocht er für uns beide alleine eine grosse Portion Nudeln mit Tomatensoße. Zuvor konnte ich noch Menüwünsche äußern. Nach so einer langen Etappe braucht ein hungriger Radler nur eins: Kohlenhydrate. An Nudeln könnte ich mich nie satt essen. Während des Essens haben wir eine angeregte Diskussion über unser derzeitiges Demokratiesystem. Aljoscha arbeitete einmal während seines Studiums bei einem Lobbisten in Brüssel, also bei der EU. Einer Berufsgruppe, die in der öffentlichen Meinung einen genauso grossen Stellenwert hat, wie die Zeugen Jehovas, Staubsaugerverkäufer oder Versicherungsvertreter, auch bekannt als "Klinkenputzer". Seine Einsichten und Meinungen dazu waren sehr interessant und gaben mir einen ganz anderen Blick auf die Arbeit eines Lobbisten und die Arbeit des Europaparlaments. Bis 1 Uhr nachts sassen wir in der Küche und unterhielten uns über ein Bedingungsloses Grundeinkommen, direkte Demokratie und die Vor- und Nachteile einer Leistungsgesellschaft.


Tag 20: Würzburg - Faulbach

Nein, nach Frühling sieht es hier in Deutschland noch nicht aus. Nach dem Frühstück, das ich alleine und bedächtig in der Küche einnahm, da mein Gastgeber nach eigenem Bekunden für gewöhnlich etwas länger schläft, betrat ich wieder die Strasse und schaute in einen bewölkten und stürmischen Himmel. Aljoscha war so nett und gab mir eine Adresse aus dem "Dachgeberverband", einer ähnlichen Organisation, wie die "Warmshowers", nur das man sich bei den Dachgebern gebührenpflichtig registrieren muss und dafür dann ein schmales Adressbüchlein zugeschickt bekommt. Der Wohnort der Dame war in Kleinwallstadt und dies sollte mein heutiges Tagesziel werden. So plante ich jedenfalls noch am frühen Morgen. Vier Stunden später sah das Ganze schon anders aus. Die letzten zwei Tage mit starkem Gegenwind hatten doch mehr an meinen Kräften gezehrt als erwartet. Bis nach Kleinwallstadt wären es gute 80 Kilometer gewesen. Bei Faulbach merkte ich, dass ich es soweit heute nicht schaffen würde.

Also galt es einen geeigneten Platz zum zelten zu finden. Nicht direkt neben dem Radweg, wenn möglich mit einer Sitzgelegenheit und windgeschützt. Vielmehr Anforderungen muss der Platz  nicht erfüllen. Beim örtlichen Angelverein wurde ich fündig. Vor dem Vereinsheim standen eine ganze Reihe von Autos. Heute war ja Samstag, und somit eine gute Gelegenheit sich im Vereinsheim bei einem Glas Bier über die jüngsten Fangerfolge auszutauschen. Oder über Fußball, Frauen und dem Scheißjob der am Montagmorgen wieder beginnt. Als ich die Tür öffnete betrat ich eine Räucherkammer. Obwohl die für die Fische doch draussen war?! Hier wurden Menschen geräuchert, der letzte Schmalz im Hirn wurde konserviert. An der Theke sassen aufgereiht auf Hockern eine Horde dickbäuchiger Männer mit roten, aufgedunsenen Gesichtern. Das erste Bier war hier schon lange Vergangenheit. Flotten Schrittes ging ich auf diese Enklave der Heiterkeit zu. Ich stellte mich auf plumpe Prollsprüche ein: "Na Junge, wo kommst du denn her. Siehst aber ganz schön abgemagert aus. Trink mal zwei Bier, damit du wieder was auf die Rippen kriegst." Überraschenderweise blieb dergleichen aus. Die runden Gorillas waren offensichtlich in wichtigeres verwickelt: "Nur weil ich Bayernfan bin", "Der Scheiss Club hat am Wochenende schon wieder gewonnen.", " Ey, hast du die neuen Bilder von der Katzenberger in der Bild gesehen. Die könnte in meinen Armen auch mal schnurren. Hoahaaaa."
  Nach zwei Minuten verspürte ich erste Anzeichen von akuter Atemnot, so verqualmt war der ganze Raum. Ich musste hier schnell wieder raus, nicht nur wegem des Qualms. Ich trug mein Anliegen einem jungem Typen an der Theke vor. "Joa, kein Problem, hier kommen öfters mal Radler vorbei. Hier hast du einen Schlüssel fürs Klo. Musst aber einen Eimer Wasser mitnehmen. Wir haben hier keinen Anschluss an die Leitung. Kommt alles aus dem Brunne. Kannst dein Zelt irgendwo da draussen auf der Wiese aufschlagen."

Gesagt getan.Wenig später saß ich draussen unter dem Vordach an einer Kirmesgarnitur und bereitete mir mein Abendessen zu. In regelmäßigen Abständen öffnete sich die Tür von der Qualmbude und ein Anglergenosse betrat die frische Luft. Um dann, wenige Meter von meinem Sitzplatz entfernt, hinter einer Bude auf der Wiese genüsslich seine Notdurft zu verrichten. Soviel zum Klo ohne Anschluss an die Wasserleitung. Abends telefonierte ich noch kurz mit meinem Bruder und dann hieß es schleunigst in meinen Schlafsack zu schlüpfen. Der kühle Abend kündigte eine noch kühlere Nacht an.



Tag 21: Faulbach - Stockstadt

- 2° Grad Celsius. So kalt war es am Morgen als ich aus dem Zelt kam. Ablesen konnte ich es am Thermometer, das am Vereinsheim hing. Auf dem Zelt war wieder gefrorener Raureif, die Wiese war geziert von weisen Kristallen. Ich zog alles an was ich finden konnte, machte mir ein schnelles Frühstück und baute mein Lager ab. Und dann passierte es. Doch noch am letzten Tag der Tour. Über 80 Tage hatte sie gehalten, Sturm und Regen überstanden, nun beim abbauen mit klammen Fingern und gefrorener Zeltplane, machte es auf einmal Krach: die vordere Zeltstange brach in zwei. Ich fluchte. Ich hatte es so oft gemacht, war immer vorsichtig. Wahrscheinlich wegen des Frosts.Natürlich schlitzte sie auch gleich noch die Plane mit auf. Der erste Gedanken der mir kam, war, wie ich heute im Occupcamp mit kaputten Zelt schlafen sollte? Heute wollte ich dir Tour nämlich dort beenden, wo sie vor sechs Monaten begonnen hatte: in Frankfurt. Aber nach der ersten Wut und dem Schreck, stellte sich sofort wieder mein Lösungsdenken ein. Ich hatte eine Reparaturhüls und Klebeband dabei. Damit sollte man etwas anfangen können.


 Wenigstens die Sonne begrüsste mich an diesem Morgen. So gleichen sich die unschönen, mit den schönen Momenten immer wieder schnell aus! Und man findet sie im Alltäglichen, im Kleinen, nicht im Grossen, wenn man lernt darauf zu achten: wärmende Sonnenstrahlen, zwitschernde Vögel, ein nettes Lächeln, eine grandiose Aussicht. Im Vergleich dazu ist doch eine gebrochene Zeltstange rein gar nichts?

Alles rollte ich weiter. Im Sonnenschein und entlang des Mains. Ich sitze gerne auf einer Bank und schaue den vorbeifahrenden Binnenschiffern zu. Ein Leben auf dem Wasser, ein Leben in weitesgehender Selbstbestimmung. Diese Pötte sind das Heim und der Arbeitsplatz zugleich, der ganze Besitz und Stolz des Skippers. Der Vergleich mit meinem derzeitigen Leben auf dem Rad drängt sich auf. Unterwegs zu sein, alles dabei zu haben was man braucht und jeden Tag etwas neues sehen - nicht das Alte, immer Gleiche. Wobei, auch bei den Schiffern stellt sich nach einer gewissen Zeit, Routine und Wiederholung ein, die immer gleichen Häfen, Flüsse und Kanäle. Aber trotzdem, der Job bietet mehr Abwechslung als an einer Stanzmaschine in der Fabrikshalle. Wie auch immer, da bleibe ich doch lieber an Land, auf meinem Rad und sehe definitiv jeden Tag neue Landschaften, Städte und Menschen.

In Bürgstadt ein weiteres "kleines Wunder" und Beweis der Gastfreundschaft auf Reisen, wenn man auf die richtigen Menschen trifft. Ich biege vom Radweg  in eine kleine Wohnsiedlung ab. Vor einer alten Scheune bleibe ich stehen und fragen einen Mann, der gerade auf einer Leiter steht und Lampen abhängt, ob er mir meine 1,5 l Flasche mit Leitungswasser auffüllen könnte? Sofort bekomme ich ein Ja zu hören. Er geht in einen Innenhof, indem  noch viele andere Leute herumstehen. Wie so oft in letzter Zeit komme ich schnell ins Gespräch mit den Menschen. Gestern Abend fand hier eine grosse Geburtstagsfeier statt. Als sie erfahren, wo ich herkomme, bieten sie mir sofort Kuchen vom Vortag an. Mit einer gefüllten Tupperbox, eine vollen Wasserflasche und weiteren netten Eindrücken verlasse ich nach 30 Minuten wieder das Gelände.

Nach Miltenberg bemerke ich aufgrund der Kilometerangaben auf dem Wegweiser, das ich mich bezüglich der  Distanz verschätzt habe. Wenn ich heute noch bis Frankfurt durchschiessen will, wären das am Ende  um die 130 km. Ich habe es ruhig angehen lassen und einige Pausen gemacht. Dadurch ist mir die Zeit davongerannt. Ich würde abends erst nach 21 Uhr ankommen. Kurz hinter Aschaffenburg beschliesse ich somit für heute abzubrechen. Der grosse Zieleinlauf wird auf morgen verschoben. Es wären dann genau drei Wochen nach meinem Aufbruch von Venedig. Damit kann ich gut leben. In der Nähe meines ersten Zeltplatzes von der Hinfahrt, suche ich mir ein ruhiges Plätzchen in den Mainauen. Ich weiss, dass es heute Nacht wieder kalt werden wird. Nach der dritten Nacht habe ich mich fast schon daran gewöhnt. Und außerdem, macht dies nicht gerade so eine Tour, oder allgemeiner gesprochen, dass ganze Leben aus - immer wieder neue Herausforderungen und Grenzbereiche zu suchen und zu erfahren? Ich glaube schon, zumindest für mich.




Mittwoch, 2. Mai 2012

Wunder und Zeichen

Tag 16 + 17: Nürnberg - Forchheim

Nach der gestrigen Mörderetappe wurde es heute gemächlicher. Nach Nürnberg war mir die Strecke bestens vertraut von der Hinfahrt. Immer entlang der Regnitz. Und so war es nach Forchheim nur ein "Katzensprung" im Vergleich zu den Etappen der letzten Tage. Dort wartete auch schon der nächste freundliche Gastgeber auf mich. Auch wohl bekannt von der Hinfahrt. Nach rund 40 km stand ich vor der Haustür von Christof,  einem mittlerweile zum Freund gewordener Radler, der vor 5 Jahren mit seiner damaligen Freundin eine Weltradreise machte, und im Sommer diesen Jahres den Sprung in die Ungewissheit als freier Autor wagt. Herzlichen Glückwunsch und Willkommen im Club, Herr Kollege! Zwei Tage verbrachte ich wieder bei Christof, der wie immer sehr gastfreundlich war und mir die Gegend bei einer Wanderung  zeigte. Als kleine Gegenleistung zauberte ich uns ein Mittagessen.

Tag 18: Forchheim - Bamberg

Am Morgen empfing mich gleich ein Hammergegenwind, der den ganzen Tag lang auch anhielt. Außerdem war es deutlich kühler als gestern, aber noch im grünen Bereich. Kälte macht mir mittlerweile weniger aus als extreme Hitze. Die Tour näherte sich mit grossen Schritte dem Ende entgegen , und eine Sache fehlte noch von den Dingen, die ich mir für die Rückfahrt vorgenommen hatte: der Besuch einer Tafel in Deutschland, jener Organisation, die sich seit Jahren eines ständigen Wachstums erfreut und deren Einsatz für viele Menschen immer wichtiger wird.

 Die grossen Supermarktketten stellen Lebensmittel, die kurz vor und nach dem Ablaufdatum stehen,  den Tafeln zur Verfügung, anstatt sie wegzuschmeissen, was aber täglich immer noch passiert, wie ich später erfahren musste. Die Organisation und Ausgabe der Lebensmittel basiert auf komplett ehrenamtlicher Arbeit und finanziert sich durch Spenden. Ich wusste schon aus Gesprächen der vergangenen Tage, dass die Tafeln eigentlich nur an nachweislich Bedürftige etwas herausgeben dürfen. Sprich, mit einem Hartz-IV Bescheid oder einer Sozialkarte in der Hand. Dieses "nachweislich" machte mir ein wenig Gedanken. Ich war ja nun seit einigen Tagen wieder in einem Land, in dem alles über Verordnungen, Gesetze und Bestimmungen geht und dieses Amtsdenken ja auch sehr oft in de Köpfen der Verantwortlichen verankert ist. Nach dem Motto: Da kann ja jeder kommen! Ich wollte es mal wieder ausreizen, ich wollte es drauf ankommen lassen: Geben die Mitarbeiter dieser Organisation auch etwas an einen "Bedürftigen", der ganz sicher keinen Nachweis hat, ausser vielleicht ein vollbepacktes Fahrrad und ein müdes und hungriges Gesicht?!

Die Antwort darauf war ebenso eindeutig wie überraschend. Aber der Reihe nach. Als ich in Bamberg ankam ging ich zuerst mal wieder in die Tourist-Info. Eigentlich wollte ich dort nach Informationen zu einer Suppenküche oder eben der Tafel fragen. Ich stand fünf Minuten in der Halle und hörte den telefonierenden Mitarbeitern zu. "Ja, das alles kann ihnen die Faszination Weltkulturerbe Bamberg bieten. Ja wir haben auch ein Erlebnisbad, selbstverständlich. Die Stadtrundfahrt kostet 40 Euro für dieses einmalige Erlebnis Faszination Weltkulturerbe Bamberg. Sie haben auch die.... " Nach sieben Minuten war ich wieder draussen. Ich hätte es nicht über die Lippen gebracht, dem durchgestylten Servicemitarbeiter "in der Faszination Weltkulturerbe Bamberg", nach soetwas, wie einer Suppenküche zu fragen! Den Ausdruck eines peinlich berührten Gesichts wollte ich uns beiden ersparen. Als ich draussen war, fragte ich mich kurz, ob der erste Gedanke des jungen Mannes, jeden Morgen nach dem Aufwachen, der immer gleiche sei: "Willkommen in der Faszination Weltkulturerbe Bamberg..."?

Ok, also auf zur nächsten Anlaufstelle. Ab zur Kirche. Dort würde es mir entschieden leichter fallen nach Einrichtungen für Notleidende zu fragen. Zehn Minuten später stand ich am Empfang eines Gebäudes direkt gegenüber des Doms, was definitiv zur Kirche gehörte, dessen genaue Funktion ich aber vergessen habe. Die  nette Frau wusste gleich Bescheid und ich brauchte kein peinlich berührtes Gesicht erwarten. Sie drückte mir einen Zettel mit Adressen in die Hand. Es gab überraschend viele Einrichtungen dieser Art, in der Stadt der Faszination Weltkulturerbe. Alle von kirchlichen Trägern. Eine Wärmestube von der Caritas, einen Vinzenverein und eben auch eine Tafel. Die Wärmestube hatte schon zu und so führte mich mein Weg zu der Tafel. Ich musste zunächst ein wenig suchen um dann nach 20 Minuten des Radelns in einem Wohngebiet vor einem grossen Haus zu stehen. Ich fuhr in den Hof und stellte mein Rad ab. Links erspähte ich den weißen Transporter. Was sich in den nächsten 15 Minuten abspielte, kann ich nur als das "Wunder von Bamberg" bezeichnen. Ein älterer Herr mit Halbglatze und graumelierten Schläfen stand im Hof und war gerade dabei Erde in eine Schubkarre zu schaufeln. Ich sprach ihn an und stellte mich vor. Schnell stellte sich heraus, dass er der Vorsitzender der Bamberger Tafel, sowie des angeschlossenen Vinzenz Verein, ist.

Wir unterhielten uns einige Minuten. Natürlich erzählte ich von meiner Tour und meinen damit verbundenen Anliegen und Vorhaben. Ich stellte aber auch Fragen, war neugierig von der Arbeit und dem Alltag der Tafel zu erfahren. Interessantes bekam ich da zu hören. Nein, nicht nur Harz-IV Empfänger stehen an den immer länger werdenden Schlangen, auch Selbstständige, die nicht wissen wie sie über die Runden kommen sollen, oder  Leute mit einem ganz normalen Vollzeitjob, denen das verdiente Gehalt bis zum Ende des Monats nicht ausreicht. Natürlich fragte ich nach dem Thema "nachweislich Bedürftig". Ja, antwortete mir der nette Mann, im Prinzip sei das richtig. Aber wenn jemand in der Schlange steht und nichts mehr zu essen hat, wird er nicht weggeschickt, weil er keinen Hartz-IV Bescheid in der Hand hat!  Es wird allen etwas gegeben.
Ich merkte schnell, hier steht eine weitere "Seele des Alltags" vor mir. Er erzählt mir, dass er vor einigen Tagen ein junges Paar unter der Brücke aufgesammelt hat, die wohnungslos bei minus 13 Grad dort ausharrten. Er vermittelte sie in eine Sozialwohnung. Sein Engagement geht weiter über die ehrenamtliche Tätigkeit bei der Tafel hinaus. Wenn er Not und Elend sieht, handelt er. Und so brauche ich nicht lange zu fragen. Selbstverständlich könne ich etwas bekommen. Wir gehen zu seinem Lieferwagen. Er öffnet die Schiebetür und vor mir stehen Körbe voller Brot. Leider gibt es derzeit nicht mehr, da er gestern die Märkte wegen Brot abgefahren hat. Ich nehme mir eine Tüte mit geschnittenem Biobrot.

Anschliessend zeigt er mir noch ein wenig seinen Betrieb. Er ist nämlich selbstständig und ich stehe gerade auf seinem Gelände. In einer Halle fülle ich an dem Wasserhahn meine Wasserflasche auf. Er bietet mir aber sofort eine 1,5 l Flasche Volvic an. Zuerst lehne ich dankend ab, wegen dem Gewicht, nehme sie dann aber doch. Muss ja heute noch kochen und wegschütten kann man es immer noch. Wir unterhalten uns noch ein wenig, er gibt mir einen Flyer der Tafel mit und ich begebe mich langsam wieder zum Rad. Gerade als ich mich verabschieden wollte, passiert das "Unglaubliche". Er schaut mich an, lächelt, und streckt mir seine Hand entgegen mit den Worten: " Hier, für die nächsten zwei Tagesetappen."  Ich schaue ihn kurz verdutzt an, erblicke dann seine Hand und sehe darin zwei 5€ Scheine! Ich bin zuerst mal fassunglos. "Nein, das kann ich doch nicht annehmen, Sie haben mir doch schon Brot und Wasser gegeben. Ich komme schon über die Runden." "Nein bitte nehmen Sie, es ist ok." Ich nehme die 10€ und bin sprachlos. Ich bedanke mich tausend mal und versichere ihm, das ich unter anderem wegen solchen Menschen wie ihm, immer wieder auf Reisen gehe. Um diese "Raritäten" im Morast der Empathielosigkeit und des Egoismus zu finden.

Auch wenige Minuten später auf dem Rad kann ich es noch nicht glauben. Die 10€ kamen aus seiner privaten Tasche und nicht aus der spendenfinanzierten Vereinskasse. Obgleich, dies keinen Unterschied in Hinblick auf die Grosszügigkeit und Menschlichkeit dieser Tat gemacht hätte. Zur Feier des Tages, oder der bisherigen Tour, gönne ich mir in einer Pizzeria eine grosse Pizza Mozarella und denke bei jedem Bissen an meinen grosszügigen Spender. Der junge Besitzer ist Kosvo-Albaner. Als er erfährt das ich auf meiner Fahrt nach Griechenland auch durch sei Heimatland Albanien kam, lädt er mich direkt zu einem Glas "Caj" ein. Das Abendessen habe ich schon mal eingenommen. Gestärkt und mit vielen positiven Eindrücken neigt sich der Tag dem Ende zu. Kurz hinter Bamberg schlage ich am Mainufer auf einem Spielplatz mein Zelt auf.

Es ist stark bewölkt und es sieht nach Regen aus. Dies kann aber meine innere Verfassung nicht eintrüben. Als ich am frühen Abend in meinem geliebten, kuscheligen Schlafsack liege fallen mir zwei Zitate ein, die ich einmal irgendwo gelesen habe. Von zwei Menschen, deren Leben unterschiedlicher nicht hätte sein können, und deren Worte den heutigen Tag nicht hätten besser abschliessen können. Beide haben der Menscheit etwas einzigartiges hinterlassen, auf ganz unterschiedlichen Ebenen.

 Einmal von einem grossen Pionier und Visionär des 21. Jahrhunderts: "Wenn ich morgen sterbe, würde ich dann tun, was ich heute tue?" (Steven Jobs)

Zum anderen von einer Frau, die mit ihrem ganzen Leben, ein Inbegriff von selbstloser Liebe und Mitgefühl war: "Das Gute, dass du heute tust, werden die Menschen morgen oft schon wieder vergessen haben. Tu weiterhin Gutes." (Mutter Teresa)