Freitag, 4. Mai 2012

Von der Leichtigkeit des Reisens

Tag 19: Bamberg - Würzburg

Schon nach den ersten Kilometern empfängt mich an diesem Morgen ein weiteres mal mein liebster Freund beim Rad fahren: der Gegenwind. Diesmal war er so freundlich und wehte sogar noch etwas stärker als gestern. Zermürbend. Ich bin kein erklärter Bergfahrer, aber anstelle eines heftigen Winds von vorne, ziehe ich jede Steigung vor. Erklärtes Tagesziel für heute: Würzburg. Dort wartet der letzte "Warmshowers-Kontakt" der Rückfahrt auf mich, mit dem ich gestern Kontakt aufgenommen hatte. Mal wieder kurzfristig, mal wieder per Sms und mal wieder klappte es. Glück muss man haben. Oder einfach nur Vertrauen?

 Aljoscha, so heisst der freundliche Zeitgenosse, der mir nach 107 kräftezerrenden Kilometern im Wind die Tür öffnet. 30 Jahre jung und Jurastudent im fortgeschrittenem Semester. Er lebt mit seiner französischem Freundin in einem 5-stöckigem Haus unter dem Dach in einer grossen Wohnung. Das Haus gehört der Großmutter und somit fällt keine Miete an. Auch ein Weg Geld zu sparen! Seine Freundin ist heute nicht da, und so kocht er für uns beide alleine eine grosse Portion Nudeln mit Tomatensoße. Zuvor konnte ich noch Menüwünsche äußern. Nach so einer langen Etappe braucht ein hungriger Radler nur eins: Kohlenhydrate. An Nudeln könnte ich mich nie satt essen. Während des Essens haben wir eine angeregte Diskussion über unser derzeitiges Demokratiesystem. Aljoscha arbeitete einmal während seines Studiums bei einem Lobbisten in Brüssel, also bei der EU. Einer Berufsgruppe, die in der öffentlichen Meinung einen genauso grossen Stellenwert hat, wie die Zeugen Jehovas, Staubsaugerverkäufer oder Versicherungsvertreter, auch bekannt als "Klinkenputzer". Seine Einsichten und Meinungen dazu waren sehr interessant und gaben mir einen ganz anderen Blick auf die Arbeit eines Lobbisten und die Arbeit des Europaparlaments. Bis 1 Uhr nachts sassen wir in der Küche und unterhielten uns über ein Bedingungsloses Grundeinkommen, direkte Demokratie und die Vor- und Nachteile einer Leistungsgesellschaft.


Tag 20: Würzburg - Faulbach

Nein, nach Frühling sieht es hier in Deutschland noch nicht aus. Nach dem Frühstück, das ich alleine und bedächtig in der Küche einnahm, da mein Gastgeber nach eigenem Bekunden für gewöhnlich etwas länger schläft, betrat ich wieder die Strasse und schaute in einen bewölkten und stürmischen Himmel. Aljoscha war so nett und gab mir eine Adresse aus dem "Dachgeberverband", einer ähnlichen Organisation, wie die "Warmshowers", nur das man sich bei den Dachgebern gebührenpflichtig registrieren muss und dafür dann ein schmales Adressbüchlein zugeschickt bekommt. Der Wohnort der Dame war in Kleinwallstadt und dies sollte mein heutiges Tagesziel werden. So plante ich jedenfalls noch am frühen Morgen. Vier Stunden später sah das Ganze schon anders aus. Die letzten zwei Tage mit starkem Gegenwind hatten doch mehr an meinen Kräften gezehrt als erwartet. Bis nach Kleinwallstadt wären es gute 80 Kilometer gewesen. Bei Faulbach merkte ich, dass ich es soweit heute nicht schaffen würde.

Also galt es einen geeigneten Platz zum zelten zu finden. Nicht direkt neben dem Radweg, wenn möglich mit einer Sitzgelegenheit und windgeschützt. Vielmehr Anforderungen muss der Platz  nicht erfüllen. Beim örtlichen Angelverein wurde ich fündig. Vor dem Vereinsheim standen eine ganze Reihe von Autos. Heute war ja Samstag, und somit eine gute Gelegenheit sich im Vereinsheim bei einem Glas Bier über die jüngsten Fangerfolge auszutauschen. Oder über Fußball, Frauen und dem Scheißjob der am Montagmorgen wieder beginnt. Als ich die Tür öffnete betrat ich eine Räucherkammer. Obwohl die für die Fische doch draussen war?! Hier wurden Menschen geräuchert, der letzte Schmalz im Hirn wurde konserviert. An der Theke sassen aufgereiht auf Hockern eine Horde dickbäuchiger Männer mit roten, aufgedunsenen Gesichtern. Das erste Bier war hier schon lange Vergangenheit. Flotten Schrittes ging ich auf diese Enklave der Heiterkeit zu. Ich stellte mich auf plumpe Prollsprüche ein: "Na Junge, wo kommst du denn her. Siehst aber ganz schön abgemagert aus. Trink mal zwei Bier, damit du wieder was auf die Rippen kriegst." Überraschenderweise blieb dergleichen aus. Die runden Gorillas waren offensichtlich in wichtigeres verwickelt: "Nur weil ich Bayernfan bin", "Der Scheiss Club hat am Wochenende schon wieder gewonnen.", " Ey, hast du die neuen Bilder von der Katzenberger in der Bild gesehen. Die könnte in meinen Armen auch mal schnurren. Hoahaaaa."
  Nach zwei Minuten verspürte ich erste Anzeichen von akuter Atemnot, so verqualmt war der ganze Raum. Ich musste hier schnell wieder raus, nicht nur wegem des Qualms. Ich trug mein Anliegen einem jungem Typen an der Theke vor. "Joa, kein Problem, hier kommen öfters mal Radler vorbei. Hier hast du einen Schlüssel fürs Klo. Musst aber einen Eimer Wasser mitnehmen. Wir haben hier keinen Anschluss an die Leitung. Kommt alles aus dem Brunne. Kannst dein Zelt irgendwo da draussen auf der Wiese aufschlagen."

Gesagt getan.Wenig später saß ich draussen unter dem Vordach an einer Kirmesgarnitur und bereitete mir mein Abendessen zu. In regelmäßigen Abständen öffnete sich die Tür von der Qualmbude und ein Anglergenosse betrat die frische Luft. Um dann, wenige Meter von meinem Sitzplatz entfernt, hinter einer Bude auf der Wiese genüsslich seine Notdurft zu verrichten. Soviel zum Klo ohne Anschluss an die Wasserleitung. Abends telefonierte ich noch kurz mit meinem Bruder und dann hieß es schleunigst in meinen Schlafsack zu schlüpfen. Der kühle Abend kündigte eine noch kühlere Nacht an.



Tag 21: Faulbach - Stockstadt

- 2° Grad Celsius. So kalt war es am Morgen als ich aus dem Zelt kam. Ablesen konnte ich es am Thermometer, das am Vereinsheim hing. Auf dem Zelt war wieder gefrorener Raureif, die Wiese war geziert von weisen Kristallen. Ich zog alles an was ich finden konnte, machte mir ein schnelles Frühstück und baute mein Lager ab. Und dann passierte es. Doch noch am letzten Tag der Tour. Über 80 Tage hatte sie gehalten, Sturm und Regen überstanden, nun beim abbauen mit klammen Fingern und gefrorener Zeltplane, machte es auf einmal Krach: die vordere Zeltstange brach in zwei. Ich fluchte. Ich hatte es so oft gemacht, war immer vorsichtig. Wahrscheinlich wegen des Frosts.Natürlich schlitzte sie auch gleich noch die Plane mit auf. Der erste Gedanken der mir kam, war, wie ich heute im Occupcamp mit kaputten Zelt schlafen sollte? Heute wollte ich dir Tour nämlich dort beenden, wo sie vor sechs Monaten begonnen hatte: in Frankfurt. Aber nach der ersten Wut und dem Schreck, stellte sich sofort wieder mein Lösungsdenken ein. Ich hatte eine Reparaturhüls und Klebeband dabei. Damit sollte man etwas anfangen können.


 Wenigstens die Sonne begrüsste mich an diesem Morgen. So gleichen sich die unschönen, mit den schönen Momenten immer wieder schnell aus! Und man findet sie im Alltäglichen, im Kleinen, nicht im Grossen, wenn man lernt darauf zu achten: wärmende Sonnenstrahlen, zwitschernde Vögel, ein nettes Lächeln, eine grandiose Aussicht. Im Vergleich dazu ist doch eine gebrochene Zeltstange rein gar nichts?

Alles rollte ich weiter. Im Sonnenschein und entlang des Mains. Ich sitze gerne auf einer Bank und schaue den vorbeifahrenden Binnenschiffern zu. Ein Leben auf dem Wasser, ein Leben in weitesgehender Selbstbestimmung. Diese Pötte sind das Heim und der Arbeitsplatz zugleich, der ganze Besitz und Stolz des Skippers. Der Vergleich mit meinem derzeitigen Leben auf dem Rad drängt sich auf. Unterwegs zu sein, alles dabei zu haben was man braucht und jeden Tag etwas neues sehen - nicht das Alte, immer Gleiche. Wobei, auch bei den Schiffern stellt sich nach einer gewissen Zeit, Routine und Wiederholung ein, die immer gleichen Häfen, Flüsse und Kanäle. Aber trotzdem, der Job bietet mehr Abwechslung als an einer Stanzmaschine in der Fabrikshalle. Wie auch immer, da bleibe ich doch lieber an Land, auf meinem Rad und sehe definitiv jeden Tag neue Landschaften, Städte und Menschen.

In Bürgstadt ein weiteres "kleines Wunder" und Beweis der Gastfreundschaft auf Reisen, wenn man auf die richtigen Menschen trifft. Ich biege vom Radweg  in eine kleine Wohnsiedlung ab. Vor einer alten Scheune bleibe ich stehen und fragen einen Mann, der gerade auf einer Leiter steht und Lampen abhängt, ob er mir meine 1,5 l Flasche mit Leitungswasser auffüllen könnte? Sofort bekomme ich ein Ja zu hören. Er geht in einen Innenhof, indem  noch viele andere Leute herumstehen. Wie so oft in letzter Zeit komme ich schnell ins Gespräch mit den Menschen. Gestern Abend fand hier eine grosse Geburtstagsfeier statt. Als sie erfahren, wo ich herkomme, bieten sie mir sofort Kuchen vom Vortag an. Mit einer gefüllten Tupperbox, eine vollen Wasserflasche und weiteren netten Eindrücken verlasse ich nach 30 Minuten wieder das Gelände.

Nach Miltenberg bemerke ich aufgrund der Kilometerangaben auf dem Wegweiser, das ich mich bezüglich der  Distanz verschätzt habe. Wenn ich heute noch bis Frankfurt durchschiessen will, wären das am Ende  um die 130 km. Ich habe es ruhig angehen lassen und einige Pausen gemacht. Dadurch ist mir die Zeit davongerannt. Ich würde abends erst nach 21 Uhr ankommen. Kurz hinter Aschaffenburg beschliesse ich somit für heute abzubrechen. Der grosse Zieleinlauf wird auf morgen verschoben. Es wären dann genau drei Wochen nach meinem Aufbruch von Venedig. Damit kann ich gut leben. In der Nähe meines ersten Zeltplatzes von der Hinfahrt, suche ich mir ein ruhiges Plätzchen in den Mainauen. Ich weiss, dass es heute Nacht wieder kalt werden wird. Nach der dritten Nacht habe ich mich fast schon daran gewöhnt. Und außerdem, macht dies nicht gerade so eine Tour, oder allgemeiner gesprochen, dass ganze Leben aus - immer wieder neue Herausforderungen und Grenzbereiche zu suchen und zu erfahren? Ich glaube schon, zumindest für mich.




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