Freitag, 4. November 2011

Ein Land voller Vorurteile

Gesamt-KM: 2.977

Tag 55

Früh brach ich heute von dem Hotel aus auf. Ich wusste ja was mich erwartet, Strasse, Staub und viel Lärm. Ich wollte nun so schnell wie möglich aus dieser provoziniellen Gegend in Mittel Albanien raus, um nach Süden zu kommen, entlang der Küste, und damit zu der schönsten Gegend von Albanien, mit den schönsten Stränden und Ausblicken aufs Meer. Das wurde mir gestern noch mal bestätigt.

Mein heutiges Tagesziel sollte Vlore werden, die letzte grosse Stadt in Albanien, direkt am Meer. Hinter Fier bekam ich dann einen ersten Eindruck davon, was es heißt, nicht auf einer der Hauptachsen unterwegs zu sein. Eine bucklige Asphaltpiste, mit riesigen Schlaglöchern und Wellen, dazu ein Auto und LKW nach dem anderen, ständig musste ich abbremsen, stehen bleiben, Löchern ausweichen.

Nun bin ich seit 5 Tagen im Land. Jeden Tag lerne ich etwas neues über dieses so andere Land. Und über mich und meine westliche, konditionierten Denkweise. Und fast jeden Tag fällt ein Vorurteil. Klar, die hatte ich auch. Religion spielt hier im Land kaum bis gar keine Rolle. Es gibt Moscheen und Kirchen, ja, aber den Alltag den ich sehen, ist alles andere als religiös oder muslimisch, keine vermummten Frauen, keine Männer mit langen schwarzen Bärten. Eher modern, westlich, zumindest in den Städten. Die Albaner laufen so westlich gekleidet herum wie wir. Auch die Frauen. Auch so ein Vorurteil, bisher habe ich keine einzigste mit Kopftuch gesehen.

Was passiert denn, wenn man in Deutschland erzählt, man will durch Albanien fahren, gar mit dem Rad. Um Gottes Willen, alles Zigeuner und Verbrecher, die überfallen dich am helligsten Tag, die haben alle Waffen?! Gerade erst in Kroatien fragte mich ein deutscher Camper mit fragenden und sorgenvollen Blick: "So ganz alleine durch Albanien?!"

Das mit den "Zigeunern" ist eine Trägodie. Sie sind eine grosse ethnische Minderheit, die hier am Rande der Gesellschaft leben. Für die Regierung, und für viele Albaner existieren sie faktisch nicht! Keine Versicherung, keine Rechte, kein Ansehen. Nobody cares! Elvin hat mir diesbezüglich einiges erzählt - er machte auch einmal eine Fotoreportage, in einem dieser Camps am Rande der Stadt, das mitterweile von Halbstarken, abgebrannt wurde. Was in Indien die Unberühbaren (die unterstes Kaste), sind in Albanien die Sinti und Roma.

Gestern in Durres vor der Tourist-Info lief mir ein Roma-Mädchen mit Baby auf dem Arm und offener Hand einige Meter hinterher, hielt mich sogar kurz am Ärmel. Wie in Indien bin ich in solchen Situationen äußersts zwiegespalten, ich gab nichts, dachte aber darüber nach. Wie bei den Bettlern in Indien glaube ich, dass mit dem Geben vom Geld keinem richtig geholfen wird, mal abgesehen davon das ich momentan jeden Cent selbst brauche. Das Problem wird damit nicht gelöst, kann es auch nie von denjenigen die ein paar Lek-Münzen geben, es muss auf politischer wie gesellschaftlicher Ebene gelöst werden. Auf meiner Fahrt raus aus Durres sah ich einen Albaner, der eine kleine LEK-Münze, zu auf dem Boden kauernden Sintis schnickte, so, als würde er einem räudigen Hund ein paar Brocken hinwerfen.

All diese Situationen und Beobachtungen lassen mich momentan jeden Tag aufs neue an die Verhätnisse in Indien erinnern. Ganz klar, dort ist alles mindestens zehnmal extremer: mehr Dreck, Müll, Abgase, Gehupe, Hunde , Hitze und vor allem, mehr Elend an Mensch und Tier. Andere Religion, andere Mentalität, anderer Kontinent. Und deshalb bemühe ich heute ein letztes mal diesen Vergleich, aber so waren nun mal meine Eindrücke und Erinnerungen der erste Tage.

Dort wie hier sieht man wie sich ein Schwellenland auf den Sprung in ein Industrieland bzw. Tourismusland befindet, oder anders gesagt, in einen Traum von einer Gesellschaft mit Wohlstand für alle. In Durres, Vlore oder Skhoder, sieht man überall riesige Rohbauten, für neue Hotels, Apparmtens mit Meerblick und kleinen Wohnungen für die aufstrebenden Albaner vom Lande. Das wird ab morgen, wenn es entlang der albanischen Riviera geht, mit ihren Tourismus- und Hotelhochburgen Himäre und Sarande, noch um einiges mehr zu sehen sein.

Ein modernes, neues Haus, mit Klimaanlage neben einer einfachen Steinhütte eines Hirten mit Strohdach. Beide Länder haben gemein, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich nicht grösser sein könnten. Jeden Tag sehe ich hier die dicksten und neuesten BMW's, Audis, und Mercedes, und gleichzeitig, zwei Jungen auf einer Pferdekarre mit Heu, alles auf der gleichen Strasse!

Gerade jetzt, in Zeiten einer Euro und Schuldenkrise, oder man kann auch sagen, einer Geld und Kapitalismuskrise, stellt sich mir bei täglichen Anblick dieser Zustände die Frage: Wo soll das alles noch hinführen?! Ich weiss es nicht! Aber was ich weiss, ist die Tatsache, das mich jeder Tag mehr in diesem Land eins wissen lässt: Was habe ich doch für ein Glück und Privileg, in einem wohlhabenden Land geboren worden zu sein, um auf einer Reise durch Europa, all dies mit eigenen Augen sehen zu können. Und darüber berichten zu dürfen! Das ruft in mir Demut und Dankbarkeit hervor.

Und so, nach 55 Tagen des Reisens, durch so unterschiedliche Länder, kann ich dem Satz, des Reiseschriftstellers Nicolas Bouvier nun vollends zustimmen:

" Letzendlich macht man nicht die Reise - die Reise macht einen!"

1 Kommentar:

  1. Schöner Bericht, der mit paar Vorurteilen aufräumt. Danke fürs posten und weiterhin gute Fahrt!

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