Freitag, 23. März 2012

Berge und Gammler

Tag 4: Trento - Bozen

Wieder ist mir das Wetter gut gesinnt, nach dem Frühstück bei Antonella, starte ich mit blauem Himmel gen Bozen. Nun wird es langsam bergig. Ich habe mir Karten und Informationen besorgt. Bis nach Bozen ist es ein Katzensprung, Flachetappe, entlang der Etsch auf dem Radweg bis zur der Stadt, wo Özi in einem Museum liegt. Nach Bozen beginnt das Eisacktal und der Aufstieg zum Brennerpass. Aber nach allem was ich bisher gehört habe, soll die Überquerung nicht so dramatisch sein, sanfte, langgezogene Anstiege. Ich werde es morgen sehen.

Vor Auer treffe ich auf Rüdiger. Eine Begegnung mit Folgen! Auf einem Typ wie Rüdiger habe ich 2 Jahre gewartet! Ich erkenne ihn von weitem auf dem Radweg. Er schiebt sein Fahrrad, das ähnlich beladen ist wie meins. Endlich, so denke ich, der erste Kontakt zu einem Reiseradler. Ich halte neben ihm und spreche ihn an.  Rüdiger ist Deutscher, Ende Fünzig, Vagabund, Landstreicher, oder reisender Obdachlose, wie man es nennen will? Sonnengegerbtes Gesicht, lange Haare über den Ohren, auch wie ich, zumindest momentan.  Er kann nicht weiterfahren, sagt er zumindest, seine Reifen sind total abgefahren, er braucht neue. Fahren könnte man trotzdem, denke ich mir, zumindest auf dem flachen Stück. Also schieben wir ein Stück zusammen. Dann fängt er an zu erzählen. Seit 30 Jahren auf der Strasse. Kommt gerade aus Griechenland zurück, wo er im Winter immer von Deutschland aus hinfährt. Von der Mani, er nennt einen Ort, den ich kenne.Welch ein Zufall!  Dort hat er angeblich "Freunde", bei denen er immer bleiben kann. Vorstellen kann ich es mir, auf der Mani leben viele Überlebenskünstler, sie war und ist es zum Teil immer noch ein Magnet, für Aussteiger, für Unzufrieden, für Systemhasser, für Einfachlebendwollende, für Naturverbundene. Wild, rauh, felsig, höhlig, dünn besiedelt, die idealen Voraussetzungen. Also eigentlich genau das Richtige für mich??

Bis vor 4 Monaten hätte ich aus vollem Halse, Ja, gebrüllt. Meine romantische, idealistische Phase. Nun nähert sie sich ihrem Ende. Zurück zu Rüdiger. "Schau dich um" meint er " hier ist alles kaputt, alles verbaut, umzäunt, abgesperrt. Das ist doch krank, das ist Boden, Land, dem gehört niemanden, ausser der Natur, und da kommen so ein paar Typen und bauen einen Zaun drum". Ich nicke. "Warum führst du so ein Leben" frage ich mit grosser Neugier und ein wenig Eigeninteresse. " Ich will das alles spüren, die Natur, die Vögel, die Sonne, das Rauschen des Flusses, ohne diesen kaputten Zeug dieser Angepassten, den Autos, den ganzen Technikscheiss." Wieder nicke ich. Vor 30 Jahren kam er als Hippie auf die Mani, so erzählt er, mit seiner Freundin, langen Haaren, wenig Geld und viel Idealismus. Der Traum einer neuen, heileren Welt, Tod dem Autoritären, dieses kaputten Welt. Dann kam sein Sohn auf die Welt. Es kommen andere Aussteiger zu Besuch, im Dorf beginnt das Gerede. Sie werden gemieden. Der Pfarrer kommt und will den Sohn taufen, Rüdiger vertreibt ihm vom Grundstück. Dann geht die Frau und nimmt den Sohn mit. Der ist mittlerweile Ende zwanzig und hat keinen Kontakt mehr zu seinem Vater.

"Diese Bananenrepublik Deutschland" fährt er fort " die lassen sich alle verarschen, darauf habe ich keinen Bock". Ich höre weiter zu, stelle immer wieder mal Verständnisfragen. Erste Widersprüche stechen durch.  Zu Beginn erzählt er mir, dass er Alkoholkrank sei. Als ich ihn frage, wie er zu seinem Stoff kommt, meint er, "ach, das Übertreibe ich extra, wenn mich diese Normalos fragen. Bediene ihr Klischee, alles Säufer. Ich trinke mal mit einem "Bruder" ne Flasche Bier, das wars." Er schimpft auf diese "Bananenrepublik, geht aber in Deutschland regelmäßig aufs Amt und holt sich seine 12€ Tagesstütze ab. "Die Hälfte brauche ich nur, den Rest spare ich, um im Winter immer abzuhauen in den Süden." So, 1.000€ kriegt er damit zusammen, auch durch Gelgenheitsjob: "Ah gute Frau, der Garten müsste aber mal wieder umgegraben werden."  Vor Jahren hat er einmal seinen Reisepass verbrannt. Im Ausland! Nach einer Woche hat er es bereut.
"Von was lebst du zur Zeit". "Ich gehe in Bäckereien, Metzgereien, frage nach einem Stück Brot, oder einem Stück Schinken. Auf Kreta habe ich mal 2 Wochen nur Apfelsinnen gefressen, ah ich kann dir sagen, da scheisst du nur die Schalen wieder raus." Einmal sass er an einer Bushaltestelle auf Kreta, plötzlich hält ein Auto. Ein Deutscher, der ihn aber auf Englisch anspricht, fragt ob er ein Problem hat. "Nein nur Hunger".  Der Deutsche drückt ihm einen 100 Mark Schein in die Hand. Er gönnt sich ein Festmahl!

Er glaubt ihn mit einen Verbündeten gefunden zu haben, einen "Bruder". Ich erzähle ihm von der Idee des Grundeinkommens, was er davon hält, dann müsste er nicht mehr betteln. " Nee, das will ich nicht, ich wache morgen früh auf und bekomme auf die Schultern geklopft für mein freies Leben. Nee, die sind dort, ich bin hier, ich brauche mein Feindbild!"

 Das ist der sprinngende Punkt. Und hier beginnt meine Geschichte, hier beginnt der grosse Unterschied. Bis vor 4-5 Monaten hätte ich einen Rüdiger noch auf die Schulter geklopft "du hast es erkannt, all die Zombies, diese modernen Sklaven. Rennen materiellen Illusionen hinterher und sind innerlich so leer und ausgebrannt."
Nun bin ich aber durch eine innere Transformation gegangen, habe meine idealitische/romantische Ader transformiert, heisst, umschlossen, integriert und weiterentwickelt. So glaube ich zumindest. Rüdiger ist auf einer prämodernen Entwicklungsebene und wird dort auch bleiben. Er braucht sie wie die Luft zum atmen, er braucht sein Feindbild, seinen Systemhass, um sich jeden Tag sein "erfülltes,erspürtes Leben " zu rationalisieren. Und um wahrscheinlich seinen tiefen Verlust und Trennungsschmerz von seinem Sohn und seinen Wurzeln zu kompensieren?! Ja wir haben grosse Probleme im derzeitigen System, ja es ist wichtig das Menschen darauf aufmerksam machen. Aber warum mit nagendem Hunger, mit eisiger Kälte und einem ewigem Feinbild? Rüdiger möchte nichts verändern, er möchte nach aussen nur verachten, hassen, und damit seinen eigenen Selbsthass übertünchen. Er möchte der "edle Wilde" bleiben, zurück zu den Wurzeln, verbunden mit der Natur, und der Rest ist ganz egal und ganz kaputt. Ja ich möchte das auch, verbunden sein, mit der Natur, mit dem Herzen, mit dem Sein,  aber aus einem modernen bzw. postmodernen Standpunkt heraus. Und vor allem ohne Selbsthass und ohne Feinbilder. Die haben wir genug und die sind das Übel für vieles.  Ich setze mich Hunger, Kälte, Einsamkeit, Wind und Wetter aus, aber freiweillig und vorübergehend. Um etwas aufzuzeigen, um darüber zu berichten, und sich wieder auf einen vollem Magen und einer sicheren Bleibe zu freuen. Und den Errungenschaften einer modernen Kultur. Das wurde mir während des Gesprächs mit ihm  klar, so vollkommen klar, der Unterschied zwischen einem Landstreicher Rüdiger und einem Reisenden mit wenig Geld. Er haßt das System und die Leute darin, ich versuche Probleme zu erkennen und zu benennen, die Menschen zu verstehen, warum sie so handeln, wie sie handeln. Und dafür danke ich ihm. Kurz bevor ich weiterfahre, ruft er mir noch nach: " Schieb den Brenner frei". Gute Reise.

In Bozen steuere ich das Kolpinghaus an. Und hier erlebe ich einen weiteren Beweis, was es heisst mit einem offenen Herzen, grossem Vertrauen und einer inneren Ausgeglichenheit zu reisen. Es sind diese Seelen, wie der Mann an der Rezeption, auf die ich immer wieder auf meinen Reisen treffe, die durch eine Verkettung von Umständen und Zufällen, am rechten Ort und Stelle sind, und mir Türen öffnen. Wie üblich erzähle ich dem älteren Herrn mit freundlichem Gesicht meine kleine Story, das ich max. 5€ zahlen könne, und prinzipell überall schlafen kann. Ich spüre gleich eine Art Aufgeschlossenheit. Zusammen gehen wir in den 1. Stock zum Geschäftsführer. Nochmal trage ich mein Anliegen vor. Er willigt ein, wünscht mir eine gute Reise und sagt der Mann von der Rezeption wird mir einen Raum zeigen. Dusche gibt es keine, aber WC und Waschbecken. No problem. 20 Minuten später blase ich in einem Kellerraum der beheizt ist und Sitzmöglichkeiten hat, meine Therma-Rest-Matte auf und breite meinen Schlafsack aus. Die "Menschenseele" von der Rezeption hat mir vorher noch einen Bon für das Frühstück zugesteckt. Er ist selbst Radfahrer, abends unterhalten wir uns ein wenig und dann organisiert er mir sogar noch einen Schlafplatz im Kolpinghaus in Sterzing, das ich morgen erreichen werde.

Tag 5: Bozen - Sterzing

Ich musste noch nicht einmal die 5€ zahlen. Die Kolpinghäuser haben eine lange Tradition und wurden ursprünglich von Adolf Kolping für die Wandergesellen gegründet. Heute sind es überwiegend Hotels, die sich finanzieren müssen, aber trotzdem noch einen christlichen und sozialen Hintergrund haben und versuchen diesen in einer Gesellschaft in der sich alles um das Geld dreht, noch umzusetzen.

Die ersten 50 km durch's Eisacktal sind fast geschenkt.  Kurze Abschnitte mit Anstiegen, ansonsten flach oder leicht ansteigend.Die Sonne ist auch wieder da und so macht das Radeln Spass. Hinter Franzenfelse wird es dann mal steiler. Aber es ist nicht mehr weit bis Sterzing, und dort werde ich schon erwartet. Eine junge und gutaussehende Frau sitzt an der Rezeption und weiss sofort wer ich bin. Der freundlichen Seele von gestern sei dank. Das Kolpinghaus ist eher ein Internat für Jungs, die hier in Sterzing auf eine Sportschule gehen und die Woche über im Haus leben. Die Dame von der Rezeption und die junge Erzieherin in meinem Alter, sind gleich von meiner Tour begeistert und sehr gastfreundlich und hilfsbereit. Diesmal schlafe ich im grossen Fernsehraum auf einer gemütlichen Couch, kann duschen und mir meine Nudeln in der Küche kochen. Abends liege ich in meinem Schlafsack und bin erstaunt und dankbar, was ich die ersten 5 Tage alles erlebt habe. Morgen geht es die letzten 20 km über den Brenner und dann heisst es rollen lassen bis Innsbruck.

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